ODDO BHF: „Ist der American Dream ausgeträumt?“

"Aus unserer Sicht besitzt Europa aufgrund der Belebung der Konjunktur, der immer wahrscheinlicher werdenden Zinssenkung der EZB im Juni, der moderaten Aktienbewertungen und des Bewertungsabschlags in Rekordhöhe beträchtliches Aufholpotenzial," so Laurent Denize, Global Co-CIO ODDO BHF

23.04.2024 | 09:47 Uhr

Es stimmt: Wir haben eine strategische Präferenz für den US-Markt. Und die letzten 15 Jahre haben uns Recht gegeben. Seit dem Ende der Finanzkrise der Jahre 2007 und 2008 schnitt Europa lediglich in 27 Monaten bzw. knapp über zwei Jahren besser ab. Diese strukturelle Outperformance der USA gegenüber Europa ist überwiegend der besonders robusten Dynamik der Gewinne je Aktie jenseits des Atlantiks zuzuschreiben. Und die letzten Monate? Seit Jahresbeginn hat der EuroStoxx 50 den S&P 500 knapp übertroffen. Diese relativ passable Performance des europäischen Marktes im Vergleich zur US-Börse wurde zudem trotz des ziemlich ungünstigen Branchenmixes erzielt. Ist der American Dream damit ausgeträumt? Davon kann keine Rede sein, doch ist Europa eine erneute Überlegung wert, zumindest aus taktischer Sicht.

EINIGE SIGNALE SPRECHEN FÜR EUROPA

Erholung der Wirtschaftsaktivität in Europa und mehr positive Konjunkturüberraschungen als in den USA

Wir rechnen mit einer Erholung des Wachstums, zumal der Wirtschaft der Eurozone inzwischen wieder positive Überraschungen gelingen. Anders als in den USA bleibt der Economic Surprise Index für die Eurozone seit November 2023 im Aufwärtstrend und schwankt um Niveaus, die darauf hindeuten, dass die Konjunkturdaten die Prognosen durchweg übertreffen. Mittlerweile profitiert Europa von einer Erholung der Einkaufsmanagerindizes und einem besonders kräftigen Aufschwung des Produktionszyklus. So stieg der PMI für die Eurozone zuletzt von 49,2 Punkten auf 50,3 Zähler und liegt damit wieder über der Wachstumsschwelle.

Die EZB wird nicht abwarten, bis die Fed ihren Lockerungszyklus beginnt

Da die Disinflationsdynamik anhält, geht der Markt davon aus, dass die EZB ihre Leitzinsen zügiger senkt als die Fed. Nach dem Beginn ihres Straffungszyklus Mitte 2022 bereitet die EZB mit Blick auf ihre Sitzung im Juni nunmehr den Boden für eine Zinswende nach unten. Wir erwarten drei Zinssenkungen der EZB um jeweils 25 Basispunkte im Jahresverlauf 2024. Interessant ist, dass diese geldpolitische Lockerung wohl vor ähnlichen Schritten der US-amerikanischen Federal Reserve erfolgen dürfte. Die Märkte bezweifeln mittlerweile, dass die US-Notenbank im Juni eine Zinssenkung anpeilt, vor allem angesichts der unerwartet positiven Arbeitsmarktdaten (die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft lag im April bei 303.000 statt der erwarteten 214.000). Hinzu kamen die enttäuschenden Inflationsdaten. In der Vergangenheit quittierten Aktien Zinssenkungen stets mit Kursaufschlägen, insbesondere, wenn keine Rezession drohte. Obwohl vergangene Wertentwicklungen kein zuverlässiger Indikator für die Zukunft sind, gehen wir gehen davon aus, dass europäische Aktien von dieser Lockerung der Geldpolitik profitieren werden.

Übertrieben pessimistische Gewinnprognosen für Europa

Die prognostizierten Gewinne pro Aktie (GpA) für das erste Quartal und das Geschäftsjahr nehmen sich noch immer eher bescheiden aus. Obwohl die Korrekturen der GpA in Europa seit Jahresbeginn leicht negativ ausgefallen sind, haben sie sich offenbar stabilisiert. Die Prognosen für das erste Quartal 2024 gehen von einem Rückgang um 11% auf 1-Jahres-Sicht aus – anschließend wird jedoch ein Anstieg um 5% erwartet, der die erste Erholung seit 2022 bedeutet. Diese Schätzungen sind angesichts der sich aufhellenden wirtschaftlichen Bedingungen bescheiden und relativ niedrig. Wir erwarten für das Geschäftsjahr 2024 ein Wachstum im mittleren einstelligen Bereich infolge einfacher Basiseffekte vor allem bei Rohstoffen. Gleichzeitig dürfte ein nahe am Trendwachstum liegendes BIP-Wachstum Margen und Umsatz unterstützen. Daher rechnen wir mit weiteren Gewinnrevisionen nach der Berichtssaison für das erste Quartal.

Bewertungsabschläge in Rekordhöhe

Europäische Aktien werden momentan mit deutlich höheren Abschlägen auf US-Werte gehandelt als zuvor. Das 12-Monats-Forward-Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) liegt bei rund 13 in Europa (5% unter dem Mittelwert seit 2014). Dem gegenüber steht ein Wert von 21 in den USA (70% über dem Mittelwert seit 2014). Damit liegt diese Differenz (Verhältnis von rund 0,6) auf einem historischen Tiefstand. Dies lässt sich zum Teil auf den KI-Boom zurückführen, die größeren Diskrepanzen sind aber in Branchen außerhalb des Technologiesektors zu finden: Finanzen, Energie oder auch zyklische Konsumgüter. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass dieser Unterschied auch sektorbereinigt und selbst nach Berücksichtigung unterschiedlicher Wachstums-perspektiven noch vorhanden ist.

Höhere Aktienrendite in Europa

Die Eurozone wird 2024 mit 3,5% voraussichtlich die höchste Dividendenrendite erzielen und stellt damit andere Märkte wie Japan (2,2%), die USA (1,5%) und die Schwellenländer (3,2%) in den Schatten. Auch die Aktienrückkaufrendite1 liegt in Europa bei rund 1,5% und damit mittlerweile fast auf US-Niveau – ein Zeichen für die Zuversicht der aussichten. Dieses starke Rendite- und Ertragsprofil europäischer Aktien erhöht die Attraktivität der Anlageregion.

Bestimmte technische Faktoren sprechen für Europa

Zunächst ist festzuhalten, dass die Liquiditätsbedingungen europäische Aktien unterstützen. Das Verhältnis von Marktkapitalisierung zur Geldmenge M2 oszilliert in den USA auf einem Allzeithoch bei 2,4, in der Eurozone dagegen nur bei 0,6 – dies entspricht dem niedrigsten Niveau der wichtigsten Aktienmärkte. Somit kann in Europa voraussichtlich mehr Liquidität in Aktien fließen als in den USA. Zudem erwarten wir, dass die EZB ihre Zinsen in diesem Jahr wohl zügiger (und wahrscheinlich stärker) senken als die US-Notenbank und damit die Liquiditätsbedingungen im Vergleich zu den USA verbessern. Zweitens stellen Investoren eifrig ihre Short-Positionen in europäischen Aktien glatt. So ist der Wert der Short-Positionen in Prozent der Marktkapitalisierung für europäische Aktien auf den niedrigsten Stand seit zehn Jahren gesunken. Dieser Trend spiegelt die wachsende Zuversicht in Bezug auf die Aussichten dieser Weltregion wider.

BEVORZUGTE SEKTOREN UND ANLAGETHEMEN

Strukturelle Favoriten: Aus struktureller Sicht bevorzugen wir noch immer die drei nachstehend genannten Sektoren/Anlagethemen im europäischen Aktienuniversum

  • Luxusgüter: Der Luxussektor hat zuletzt eine drastische Neubewertung verzeichnet. Ausschlaggebend hierfür waren die Sorgen über China und die künftigen Wachstumsraten. Die zu erwartende Erholung der chinesischen Wirtschaft wird aber die Nachfrage nach Luxusgütern aller Voraussicht nach beflügeln. Daher liegen die Korrekturen der GpA für das Geschäftsjahr 2024 auf der Basis der Januar- und Februar-Daten wieder im positiven Bereich, was Unternehmen hoher Qualität Auftrieb verleihen sollte.
  • Gesundheit: Wir favorisieren eine Positionierung in diesem erstklassigen defensiven Sektor, bei dem es weniger auf die Verbraucherstimmung ankommt. Das Potenzial des Gesundheitssektors aufgrund der wachsenden chinesischen Nachfrage nach Pharmazeutika wird nach unserer Sicht unterschätzt, und die Tatsache, dass sich in diesem Sektor in den letzten Monaten nicht viel getan hat, bestärkt uns in unserer Überzeugung.
  • Technologie: Europäische Tech-Unternehmen weisen solide Bilanzen auf und generieren einen hohen Cashflow – beste Ausgangsbedingungen für Wachstumsaussichten und höhere Bewertungsniveaus. Wir sind davon überzeugt, dass die längerfristigen Trends in Richtung künstliche Intelligenz ein wichtiger Unterstützungsfaktor bleiben.


Taktische Überzeugungen:
Für unsere taktische Allokation setzen wir selektiv auf einige zyklische Werte.

  • Banken: Europäische Banken sind dank der weichen Landung der Wirtschaft, der kräftigen Renditen und der niedrigen Risikorückstellungen so aufgestellt, dass sie eine hohe Rentabilität erzielen können. Die Kapitalmarktaktivität dürfte wieder anziehen – den Investmentbanken winken gute Geschäfte. Angesichts der noch immer sehr niedrig erscheinenden Bewertungsniveaus und der hohen Cashflow-Rendite für die Aktionäre stellen Banken für uns einen taktischen Schwerpunkt dar.
  • Chemie: Chemieunternehmen dürften nach unserer Einschätzung 2024 das höchste Ertragswachstum erzielen und von der Erholung der globalen Einkaufsmanagerindizes für den verarbeitenden Sektor, niedrigeren Energiepreisen und erneuten Aufstockungen nach dem Abbau überschüssiger Lagerbestände profitieren.
  • Energie: Dank der günstigeren Wirtschaftsbedingungen könnten Energieunternehmen höhere Gewinne je Aktie erzielen. Zudem haben Produktionskürzungen der OPEC+ und geopolitische Risiken die Ölpreise und Kurse von Energieaktien gestützt, was eine effiziente und preisgünstige Absicherung gegen Unsicherheiten ermöglicht (KGV von 7,0 und eine erwartete Rendite von >10%).


FAZIT

Aus unserer Sicht besitzt Europa aufgrund der Belebung der Konjunktur, der immer wahrscheinlicher werdenden Zinssenkung der EZB im Juni, der moderaten Aktienbewertungen und des Bewertungsabschlags in Rekordhöhe beträchtliches Aufholpotenzial. Deshalb bevorzugen wir für unsere taktische Allokation europäische statt US-Aktien, wenn auch vergangene Wertentwicklungen und Prognosen kein zuverlässiger Indikator für die Zukunft sind. Obwohl die jüngsten Entwicklungen darauf hindeuten, dass europäische Aktien möglicherweise besser laufen könnten, sollte dieses vorübergehende Zeitfenster nicht darüber hinwegtäuschen, dass Europa mit einigen strukturellen Herausforderungen zu kämpfen hat, weshalb wir keine strukturell positive Positionierung in dieser Anlageregion in Betracht ziehen. Aus struktureller Sicht ist der American Dream mitnichten ausgeträumt – die USA sind auch weiterhin für einige positive Überraschungen gut.

Hier finden Sie den vollständigen MONTHLY investment brief APRIL 2024.

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