AB: Turbulenzen an den europäischen Aktienmärkten - Blick hinter die Kulissen
Auslöser für die Turbulenzen an den europäischen Märkten waren der Krieg in der in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gelegenen Ukraine und die wirtschaftlichen Verbindungen der Region zu Russland.01.04.2022 | 08:17 Uhr
Allerdings schwankte die Wertentwicklung der einzelnen Sektoren und Branchen in einem Ausmaß, das sich durch ihre veränderten fundamentalen Aussichten nicht vollständig rechtfertigen lässt. Ein genauerer Blick kann Anlegern in diesen unsicheren Zeiten Orientierung bieten.
Der MSCI Europe Index fiel seit Jahresanfang bis zum 18. März in
Lokalwährung um 5,7%. Im Vereinigten Königreich stieg der MSCI United
Kingdom wegen der hohen Gewichtung von Energieaktien im gleichen
Zeitraum um 2,7%. Beide Indizes erholten sich in der Woche zum 18. März
und machten fast alle Verluste wett, die seit dem russischen Einmarsch
in der Ukraine am 24. Februar entstanden waren. Im Januar und Februar
entwickelten sich die europäischen Aktienmärkte etwas besser als die
US-amerikanischen, denen mit dem Wiederanstieg der Zinsen ein deutlicher
Rückgang ihrer technologielastigen Bereiche zusetzte. Im März kehrte
sich dieses Muster teilweise um.
Die Entwicklung auf sektorieller Ebene war uneinheitlich (Abbildung).
Der europäische Energiesektor verzeichnete dank steigender Öl- und
Gaspreise einen Aufschwung. Vor allem vor Kriegsbeginn standen
Technologieaktien wegen einer weltweiten Verkaufswelle in diesem Sektor
stark unter Druck. Der Rückgang des Gesundheitssektors fiel moderater
aus, während Kommunikationsdienste leicht zulegten. Außerdem war
innerhalb bestimmter Sektoren die Wertentwicklung der einzelnen Branchen
uneinheitlich. So entwickelten sich beispielsweise Pharmatitel relativ
robust, während Medizintechnik und Dienstleistungen zurückgingen. Im
Bereich der Basiskonsumgüter konnten sich Lebensmitteleinzelhändler am
besten halten.
Die jüngste Marktentwicklung lässt sich durch verschiedene Markttrends erklären. Angesichts der Volatilität können diese Trends Anlegern unseres Erachtens eine gewisse Orientierung für ihre Portfolios bieten.
Rezessionsängste zu erwarten
In Europa bestehen zurzeit erhebliche Sorgen um das makroökonomische
Wachstum. Da die Region auf russische Öl- und Gaslieferungen angewiesen
ist, bestehen akute Inflationsrisiken, falls diese wichtigen Lieferungen
wegfallen sollten. Neben potenziellen geldpolitischen Fehlentscheidungen
ist Europa besonders anfällig für eine Stagflation, d. h. für eine
schmerzhafte Kombination aus einer Konjunkturverlangsamung und hoher
Inflation.
Die europäischen Banken befinden sich im Auge des Sturms. Banken leiden
unter Stagflation, profitieren aber von steigenden Zinsen, die die
Nettozinsmargen – die Differenz zwischen den Erträgen aus Darlehen und
den Zahlungen auf Einlagen – steigen lassen. Rezessionsängste und Sorgen
hinsichtlich des Engagements in Russland und anderer risikoreicher
Märkte drücken auf die Stimmung. Anleger sollten jedoch nicht alle
Banken über einen Kamm scheren. Solvente Kreditgeber mit geringem
Engagement in Osteuropa, relativ robusten Kreditbüchern und
vergleichsweise guten Bilanzen dürften mit einem Rückgang zurechtkommen.
Auch Autohersteller wurden hart getroffen. Während einer Rezession
entwickeln sie sich in der Regel unterdurchschnittlich, weil die
Verbraucher teure Anschaffungen vermeiden. Doch bereits vor dem Krieg
waren die Absatzprognosen für die Autoindustrie auf ungefähr 11
Millionen Fahrzeuge gefallen, was fast dem tiefsten Stand seit 30 Jahren
entspricht. Wir halten weitere starke Rückgänge selbst im Fall einer
Rezession für unwahrscheinlich. Der Rückgang der Aktien mancher
Autohersteller könnte wegen der übertrieben negativen Erwartungen aus
unserer Sicht ungerechtfertigt sein.
Überdies ist die Branche im Zusammenhang mit dem Krieg mit unmittelbaren
Störungen konfrontiert. So entstehen beispielsweise
Produktionsverzögerungen, weil überall Kabelbäume für Autos fehlen, die
zu einem großen Teil in der Ukraine gefertigt werden. Da die Hersteller
aber auf andere Anbieter von Kabelbäumen aus Osteuropa und Afrika
ausweichen können, gehen wir davon aus, dass diese Störungen höchstens
ein paar Wochen anhalten. Die Aktien von europäischen
Automobilherstellern und Zulieferern von Autoteilen sind um mehr als 16%
eingebrochen, was weitaus länger anhaltende Störungen und einen
größeren Umsatzrückgang impliziert, als wir für wahrscheinlich halten.
Defensive Sektoren behaupten sich
Manche defensive Sektoren haben sich besser entwickelt als der
breitere europäische Markt. Der Gesundheitssektor ist vom Jahresbeginn
bis zum 18. März um 1,0% zurückgegangen, seit Kriegsbeginn jedoch um
6,9% gestiegen. Eine gute Entwicklung innerhalb des Sektors wies die
Pharmabranche auf. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass
Arzneimittelhersteller ihre Produkte aus humanitären Gründen weiterhin
in Russland verkaufen dürfen, während viele europäische Unternehmen
diesen Markt wegen der Sanktionen verließen.
Der Basiskonsumgütersektor entwickelte sich unterdurchschnittlich.
Einzelne Lebensmittelhersteller konnten sich jedoch relativ gut halten,
da es unwahrscheinlich ist, dass ihre Geschäftsaktivitäten unter einer
Konjunkturverlangsamung leiden werden. Versorger und
Immobiliengesellschaften, die ebenfalls tendenziell von einem steigenden
Zinsumfeld profitieren, verzeichnen seit Jahresbeginn Rückgänge; seit
Kriegsbeginn haben sie jedoch nur noch leicht nachgegeben. Eine
selektive Positionierung in defensiven Marktbereichen kann dazu
beitragen, die Portfolios teilweise vor der Volatilität zu schützen.
Energie- und defensive Unternehmen profitieren
Die Turbulenzen kamen Energie- und defensiven Unternehmen zugute.
Obwohl europäische Energieunternehmen gezwungen waren, ihre Aktivitäten
in Russland einzustellen, stützen die steigenden Öl- und Gaspreise die
Kurse vor dem Hintergrund bereits hoher Cashflows, die größtenteils an
die Anteilinhaber ausgeschüttet werden. Allerdings sind die Auswirkungen
auf den Rohstoffsektor unterschiedlich, und manche Unternehmen, die auf
Einfuhren von Stahl und anderen Rohstoffen aus Russland und der Ukraine
angewiesen sind, leiden unter Ausfällen.
Rüstungsunternehmen rechnen mit einem enormen Umsatzplus aufgrund der
neu eingegangenen Verpflichtungen der EU zur Stärkung ihrer
Handlungsfähigkeit. So sind beispielsweise durch die für 2022
beschlossene Erhöhung des deutschen Verteidigungshaushalts auf 100
Milliarden EUR riesige Aufträge zu erwarten. Auch wenn der
Rüstungssektor neuen Schwung erhält, sollten verantwortungsbewusste
Anleger nach unserem Dafürhalten die Unternehmen genau unter die Lupe
nehmen, um sicher zu sein, dass sie keine verbotene Munition herstellen,
die wahllos tötet, oder Produkte an die falschen Akteure verkaufen.
Anleger, die die dramatischen Ereignisse in der Ukraine verfolgen,
könnten zu dem Schluss kommen, dass die europäischen Aktienmärkte
gemieden werden sollten. Das wäre aus unserer Sicht falsch. Obwohl der
Krieg tatsächlich zu extremer Unsicherheit geführt hat und für Anleger langfristige Veränderungen
bedeutet, ist es auch wahrscheinlich, dass er sich unterschiedlich
stark auf die Entwicklung von Sektoren, Branchen und Unternehmen
auswirken wird. Wenn Unternehmen ermittelt werden, deren Geschäft robust
ist und die langfristigen Gefahren weniger stark ausgesetzt sind, kann
ein Portfolio aus europäischen Aktien unserer Auffassung nach in der
Lage sein, Anlegern durch diese schweren Zeiten zu helfen.
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