Anne Applebaum, Historikerin und Pulitzer-Preisträgerin, Autorin und Osteuropa-Expertin, ist der Meinung, dass die Ukraine den Krieg in den kommenden Monaten gewinnen und damit den autokratischen Regimes auf der ganzen Welt einen Schlag versetzen kann. Wir haben den Vortrag, den sie vor kurzem bei uns gehalten hat, zusammengefasst.
13.06.2023 | 06:07 Uhr
Der Krieg in der Ukraine zerstört die Illusion, dass die Wirtschaft alles lösen kann. Das ist ein Krieg, der von einem Staatschef angezettelt wurde, der seine Wirtschaft nicht mehr in den Rest der Welt integrieren möchte und der seinen Erfolg auch nicht am Wachstum seines nationalen BIP misst.
Es stellt sich die Frage, was der Auslöser für den Wandel ist.
Meiner Meinung nach könnte dieser Krieg der Auslöser sein. Wir befinden uns in gewisser Weise an einem Scheideweg – die Welt könnte sich in sehr unterschiedliche Richtungen entwickeln. Ich würde auch sagen, dass viele der alles entscheidenden Ereignisse, die Einfluss auf die Richtung haben könnten, in den nächsten Monaten stattfinden könnten. Beobachten Sie die weitere Entwicklung also ganz genau.
Warum ist es so schwierig, Vorhersagen über die Ukraine zu treffen, und warum verstehen so viele Menschen die ukrainische Armee falsch? Ich war erst letzten Monat in der Ukraine und habe eine Drohnenwerkstatt in einer ukrainischen Provinzstadt besucht, wo ehemalige Softwareingenieure arbeiten ... Das gesamte geistige Kapital des Landes konzentriert sich jetzt darauf.
Stellen Sie sich vor, jeder im Silicone Valley würde jetzt für das amerikanische Militär und die Kriegsführung arbeiten – genau das passiert gerade in der Ukraine. Ich habe auch Menschen kennengelernt, die an der Entwicklung und Verwendung von Militärsoftware arbeiten, die so hochentwickelt ist wie noch nie zuvor in der Geschichte.
Es ist also sehr schwer, sich ein Bild von der Armee zu machen, und genauso schwer ist es, sich ein Bild von der Gesellschaft zu machen und sie zu verstehen. Sie ist basisdemokratisch organisiert, nicht hierarchisch strukturiert. Man kann bei der Einschätzung viele Fehler machen, so wie Putin es getan hat – und wir auch. Wir haben falsch verstanden, wie gut sie im Kampf gegen die Russen sind.
Ich habe zwar gesagt, es ist schwer, Vorhersagen zu treffen, dennoch werde ich eine treffen.
„Wir befinden uns in gewisser Weise an einem Scheideweg – die Welt könnte sich in sehr unterschiedliche Richtungen entwickeln.“
Ich denke, dass die Ukrainer gewinnen können. Sieg bedeutet für sie drei Dinge. Es bedeutet, dass sie den Grossteil ihres Territoriums (einschliesslich der Krim) zurückerobern. Sie halten es auch für notwendig, nach dem Krieg von einer Art Sicherheitsnetz aufgefangen zu werden. Das wird wahrscheinlich nicht die NATO sein, weil dazu die Parlamente der NATO-Staaten zustimmen müssen und das vermutlich nicht passieren wird, sondern eine Art Koalition. Und auch ein [Sieg] müsste irgendein Element von Gerechtigkeit einschliessen, irgendeine Anerkennung dessen, was geschehen ist.
Für sie ist ein Ende des Krieges nicht nur ein militärischer Sieg, sondern eine Art politischer Sieg. Das bedeutet nicht notwendigerweise einen Regimewechsel [in Russland]; es bedeutet nur einen Wandel in der Einstellung. Sie wollen, dass die Russen anerkennen, dass der Krieg ein Fehler war, der schlecht für Russland war, und sie wollen, dass zumindest die russische Elite zu der Erkenntnis gelangt, dass die Ukraine jetzt ein unabhängiges Land ist und man dort nicht einfach so einmarschieren kann.
Der beste Vergleich, wenn man in der Geschichte zurückblickt, ist die Entscheidung Frankreichs Anfang der 1960er Jahre, sich aus Algerien zurückzuziehen. Die Entscheidung war ähnlich gelagert: „Wir werden dort nicht mehr kämpfen, wir sind in diesem Sinne keine Kolonialmacht mehr und wir gehen nach Hause.“ Diese Art des Wandels muss sich innerhalb Russlands vollziehen, und die Ukrainer denken viel darüber nach.
Die Gegenoffensive wird in den nächsten zwei bis drei Monaten stattfinden. Meiner Meinung nach würde ein Sieg der Ukraine alles verändern. Es hätte Einfluss auf die Wahrnehmung des Westens in der Welt ... Sie werden siegen wegen besserer Technologie, sie werden siegen wegen der besser organisierten Politik, sie werden siegen wegen der demokratischen Basisorganisation ihrer Gesellschaft.
Und sie werden als Demokratie angesehen werden, die eine Autokratie besiegt hat, und das macht etwas mit den Menschen im Ausland. Es gibt nicht so etwas wie einen autokratischen Block. Das sind Länder mit unterschiedlichen Ideologien und unterschiedlichen Taktiken, aber sie kooperieren und stimmen sich ab, und dadurch helfen sie sich gegenseitig bei der Unterdrückung ihrer eigenen demokratischen Opposition und demokratischer Ideen. Man kann das in Venezuela, Belarus, Hongkong sehen, und an der Hilfe des Irans für die russische Invasion. Das ist einer der Gründe, warum die Entscheidung Chinas, mit Selenskyj zu sprechen, so interessant ist.
Die Chinesen beginnen meiner Meinung nach zu verstehen, dass Russland den Krieg nicht zu russischen Bedingungen gewinnen kann, und sie fangen an, für sich eine andere Rolle zu suchen. Ich würde auch sagen, dass der Ausgang des Krieges die Wahlen in den USA beeinflussen wird. [US-Präsident Joe] Biden war in Kiew und hat sich hinter Selenskyj gestellt. Mit Sicherheit wird die Unterstützung der USA bis zu den Wahlen andauern.
Ich vermute, dass es bei den US-Wahlen ein Problem sein wird, wenn die Lage nicht bis nächstes Jahr geklärt ist, und das weiss die Regierung. Das ist ein weiterer Grund, warum die nächsten Monate so wichtig sind – denn die amerikanische Regierung möchte, dass sich die Lage bis zum Jahreswechsel zum Positiven wendet.
Wie würde ein Versagen aussehen? Wenn die Ukrainer am Ende so unter Druck sind, dass sie viel Territorium abgeben müssen, wenn ihre Gegenoffensive, die in den nächsten Monaten stattfinden wird, fehlschlägt, das würde Selenskyj politisch in Bedrängnis bringen. Im Land herrscht ein gewisser Widerstand gegen ihn, der aber nicht offen geäussert wird. Man hört nichts davon, weil das Land mitten im Krieg ist, aber er könnte offenkundig werden und dann könnte es zu einem politischen Konflikt in der Ukraine kommen. Und dann würde Putin wieder seine Macht ausspielen. Und Xi würde sich wieder auf seine Seite schlagen.
Dadurch würde die Autokratie international wieder erstarken, der Zusammenhalt dieser Länder, die locker kooperieren. Ich denke, die Ukraine wird nach dem Krieg weiter existieren, ich sehe aktuell kein Szenario, in dem Russland das ganze Land besetzt. Denkbar ist aber eine sehr schwache Ukraine, die zu einem hoffnungslosen Fall wird. Weil die Sicherheitsprobleme nicht gelöst sind, kehren die Flüchtlinge nicht nach Hause zurück, Investitionen sind nicht möglich. Das könnte zu einem dauerhaften Problem werden.
Und schliesslich wird die Ukraine natürlich von den Chinesen und den Taiwanesen als eine Art Metapher verstanden. Einer der Gründe, warum die USA Kiew ganz klar bei der Verteidigung ihres Landes helfen wollen, ist, dass sie auf diese Weise eine Botschaft an China senden können. Nach meiner Ansicht ist China nicht daran interessiert, einen Krieg in Taiwan zu führen, sondern eher daran, eine politische Lösung zu finden und diese vielleicht zu nutzen, um den politische Kurs Taiwans zu verändern. Ich gehe von einer Kampagne der schrittweisen Einflussnahme aus. Das ist ohnehin schon seit neun, zehn Monaten der Fall.
Ein negativer Kriegsausgang würde die Chinesen in ihrer Vorgehensweise bestärken.
Ich möchte nicht sagen, dass der Krieg über alles entscheidet, aber
sein Ausgang wird die Wahrnehmung des Erfolgs der Autokratie und des
Erfolgs der Demokratie auf der ganzen Welt beeinflussen. Die
Entscheidungen, die innerhalb der Eliten selbst an sehr sehr weit von
Osteuropa entfernten Orten getroffen werden, werden von diesem Krieg
geprägt sein. Wer hat die bessere Technologie, wer hat das bessere
politische System – der Krieg wird viele dieser Argumente prägen.
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