Tim Winstone, Portfoliomanager für Unternehmensanleihen, erörtert, warum ein vorsichtiger und beständiger Ansatz zur Bewältigung der Marktlage im Jahr 2022 für sowohl die Europäische Zentralbank (EZB) als auch Anleger sinnvoll ist.
20.12.2021 | 12:05 Uhr
Das Auftauchen der Omicron-Variante in Europa erinnert uns daran, wie schnell sich die Verhältnisse im Zuge der Erholung von der Pandemie wieder verändern können. Zu den übrigen Hindernissen, die auf dem Weg zur Normalisierung auf uns zukommen könnten, zählen unter anderem ein Übergreifen der von China ausgehenden Risiken, Belastungen durch die erhöhte Inflation und mögliche politische Fehler, sollten die Finanzbedingungen zu früh oder zu spät gestrafft werden.
Diese Unsicherheiten kommen zu einer Zeit, in der sich die Spreads im Investment-Grade-Segment auf einen engen Niveau bewegen, wodurch sich das Risiko stärker auf die Abwärtsseite (potenzielle Verluste) verschiebt. In diesem Szenario fühlt sich ein zu hohes Beta (d. h. eine zu hohe Marktsensitivität) so an, als würde man mit Höchstgeschwindigkeit in eine Kurve hineinfahren. Es stellt sich die Frage: Wird das Jahr 2022 die Disziplin der Anleger und Zentralbanken auf den Prüfstand stellen? Das Credo der EZB lautet: Vorsicht. Dementsprechend ist sie im Zuge der Normalisierung ihrer Geldpolitik im Sinne ihres gemäßigten Ansatzes hinter anderen großen Zentralbanken zurückgeblieben.
Die Zentralbank hält sich alle Ausstiegsoptionen offen, da sie sich der Inflationsrisiken bewusst ist. Allerdings weiß sie auch, wie wichtig es ist, bei der Festlegung ihrer Politik nicht zu stark ins Lenkrad zu greifen, solange nicht mehr Klarheit über die mögliche Entwicklung der Inflation besteht. Die uneinheitliche, wenn auch etwas nachlassende Erholung in Europa liefert weitere Impulse für eine allmähliche Rücknahme der lockeren Bedingungen. Nichtsdestotrotz soll das Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) im März 2022 auslaufen. Zwar handelt es sich dabei in erster Linie um Käufe von Staatsanleihen aus der gesamten Eurozone, die Folgeeffekte dürften sich angesichts der Risikowahrnehmung der Anleger jedoch auch an den Märkten für Unternehmensanleihen bemerkbar machen. Allerdings werden die Käufe von Kreditwerten im Rahmen des Programms zum Ankauf von Unternehmensanleihen (CSPP)1 im Wert von 307 Mrd. EUR fortgesetzt.
Dies macht die EZB zu einem wichtigen Käufer, der etwa ein Fünftel des europäischen Investment-Grade-Marktes kontrolliert.2 Wir gehen davon aus, dass das Angebot an Anleihen bestehen bleiben wird, da die Zentralbank einen beträchtlichen Teil davon aufkauft. Folglich könnte die EZB – auch wenn sie 2022 eher in den Hintergrund tritt – immer noch eine treibende Kraft für die Märkte sein.
Das starke technische Umfeld für Unternehmensanleihen hat einen der Hauptgründe für Anlagen in europäischen Investment-Grade-Anleihen geschaffen. Wenn die EZB den Fuß vom Gaspedal nimmt, wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach Auswirkungen auf die gesamte Anlageklasse sowie auf die Spreads haben. Da die Suche nach Wertpotenzial ohnehin schon ein schwieriges Unterfangen ist, besteht das ultimative Ziel darin, Gelegenheiten aufzuspüren, bei denen die Erträge eine angemessene Vergütung für die übernommenen Risiken bieten. Positive Fundamentaldaten von Kreditwerten, die sich beispielsweise in geringen Ausfallerwartungen niederschlagen, deuten darauf hin, dass Titel mit niedrigerem Rating möglicherweise besser abschneiden könnten als ihre höher eingestuften Pendants. Die Spreads haben sich zuletzt erweitert und notieren zwar eher am engeren Ende der Spanne des letzten Jahrzehnts, sind jedoch noch weit von ihren Tiefstständen entfernt. Generell liegen sie auch weiterhin über den typischen Niveaus vor der Finanzkrise. Es besteht also durchaus die Möglichkeit für eine gewisse weitere Verengung der Spreads, wir müssen uns jedoch darüber im Klaren sein, dass der Großteil der Renditen im Jahr 2022 realistischerweise über Carry erzielt werden dürfte.
Die Spreads von Euro-Investment-Grade-Anleihen notieren deutlich über ihren Tiefstständen
Quelle: Bloomberg, ICE BofA Euro Corporate Bond Index, Govt OAS (optionsbereinigter Spread), 30. November 1997 bis 30. November 2021.
Ein Gangwechsel, um Carry (d. h. den zusätzlichen Renditevorteil, der sich aus dem Halten einer Anleihe anstelle von Bargeld ergibt) zu optimieren und titelspezifische Risiken durch die Einzeltitelauswahl zu erfassen, könnte Anlegern unserer Einschätzung nach helfen, auf ihrer Suche nach Erträgen im Jahr 2022 erfolgreich zu sein.
Eine Komprimierung der Spreads über verschiedene Ratingkategorien hinweg ist ebenso möglich wie ein Aufstieg von Anleihen von einer niedrigeren zu einer höheren Kategorie. Rising Stars, also Unternehmensanleihen, die von der High-Yield- in die Investment-Grade-Kategorie hochgestuft werden, konnten sich aus dem COVID-bedingten Sumpf befreien und im Jahr 2021 glänzen, da sich sowohl Cashflows als auch Erträge erholt haben. Allerdings scheint noch reichlich Treibstoff im Tank zu sein, so dass weitere Unternehmen ihrem Vorbild folgen könnten. JP Morgan schätzt, dass weltweit Anleihen im Wert von bis zu 277 Mrd. USD im Umlauf sind, die bis Mitte 2023 in eine höhere Kategorie heraufgestuft werden könnten (sofern es nicht zu einem weiteren Konjunkturschock kommt).3
Eine Renditequelle ergibt sich aus der Spread-Verengung, wenn Anleihen auf ein Rating von BBB (Investment Grade-Status) heraufgestuft werden. In Europa könnte dies möglicherweise die attraktivste Gelegenheit darstellen, da die Spread-Differenzen zwischen Hochzinsanleihen mit BB-Rating und dem BBB-Segment in Europa stärker ausgeprägt sind als etwa im Vereinigten Königreich und den USA.4
Auch wenn das Umfeld also schwieriger zu bewältigen sein wird, könnte ein disziplinierterer Ansatz darauf setzen, sich nicht auf externe Faktoren als Haupttreiber für Aufwertungen zu verlassen. Es dürfte natürlich Firmen geben, die von der Wiedereröffnung der Wirtschaft profitieren, insbesondere nachdem erneut Lockdowns verhängt wurden. Der Katalysator, der 2022 für Upgrades bei Investment-Grade-Titeln und Rising Stars sorgt, könnte jedoch enger mit der jeweiligen Kreditlage verbunden sein: sei es, dass Unternehmen nach der Finanzierung von Fusionen oder Übernahmen ihre Verschuldung abbauen oder aber ihre Geschäftsstrukturen ändern, um Mehrwert zu schaffen. Eine eingehende Analyse der vielfältigen Möglichkeiten, die sich im Investment-Grade-Segment bieten, könnte weniger bekannte Titel zutage fördern, bei denen sich potenzielle Alpha-Chancen eröffnen. Neben der Emittentenauswahl bietet ein Blick auf die Kapitalstruktur eines Unternehmens eine weitere Möglichkeit, Wertpotenzial zu ermitteln.
"Konzentrieren Sie sich lieber auf regelmäßige, beständige Zugewinne, anstatt alles auf eine Karte zu setzen"
In einem Risikoumfeld, in dem die Märkte schnell die Richtung wechseln können, macht es unserer Meinung nach Sinn, kleine Gewinne anzustreben, die sich im Laufe der Zeit summieren, anstatt alles auf eine Karte zu setzen und womöglich auf dem falschen Fuß erwischt zu werden.
1 Quelle: EZB; Stand: 26. November
2 Quelle: Bloomberg, EZB, Schätzungen von Janus Henderson basieren auf den veröffentlichten CSPP-Beständen und der Größe des Marktes für vorrangige Nicht-Banken-Unternehmensanleihen nach dem Marktwert der ICE BofA Euro Corporate Indizes und der angenommenen Qualifizierung für das Programm zum 26. November 2021.
3 Quelle: J.P.Morgan, ohne Emittenten aus Schwellenländern; Stand: 30. September 2021. Bei diesem Wert handelt es sich um eine Prognose, und es gibt keine Garantie dafür, dass sich Trends der Vergangenheit fortsetzen oder dass Prognosen eintreffen werden.
4 Quelle: Bloomberg, ICE BofA BBB Euro Corporate Index ggü. ICE BofA BB Euro High Yield Index; ICE BofA BBB Sterling Corporate Index ggü. ICE BofA BB Sterling High Yield Index; und ICE BofA BBB US Corporate Index ggü. ICE BofA BB US High Yield Index; Stand: 15. November 2021.
Glossar der Fachbegriffe
Alpha: Das Alpha ist die Differenz zwischen der Rendite eines Portfolios und der Rendite seiner Benchmark, bereinigt um das eingegangene Risiko. Ein positives Alpha bedeutet, dass ein Portfolio im Verhältnis zum eingegangenen Risiko eine höhere Rendite erzielt hat.
Beta: Damit wird das Verhältnis eines Portfolios (oder eines Wertpapiers) zum Gesamtmarkt oder zu einer gewählten Benchmark gemessen. Die Benchmark hat immer ein Beta von 1. Wenn ein Portfolio ein Beta von 1 hat, so bedeutet dies, dass der Portfoliowert bei einem Anstieg des Marktes um 10 % ebenfalls um 10 % zunehmen sollte. Bei einem Portfolio mit einem Beta von mehr als 1 wird erwartet, dass es sich stärker als der Markt bewegt, aber in dieselbe Richtung. Ein Beta von 0 bedeutet, dass die Renditen des Portfolios in keiner Weise mit den Marktrenditen verbunden sind. Ein negatives Beta bedeutet, dass sich die Anlage in die entgegengesetzte Richtung zum Markt bewegen sollte.
Kreditspread/Spread: Renditeunterschied zwischen Wertpapieren mit ähnlicher Restlaufzeit, aber unterschiedlicher Bonität, z. B. Renditeabstand zwischen einer Hochzins-Unternehmensanleihe und einer Staatsanleihe mit gleicher Laufzeit. Eine Spread-Weitung deutet im Allgemeinen auf eine Verschlechterung der Bonität von Emittenten hin, eine Verengung hingegen auf eine Verbesserung der Bonität.
Entschuldung: Wenn sich ein Unternehmen entschuldet, verringert es seine Kredite/Schulden im Verhältnis zu seiner Bilanzsumme. Innerhalb eines Investmentfonds bedeutet dies, dass der Fonds seinen Fremdfinanzierungsgrad verringert.
Verlustrisiko: Eine Schätzung des möglichen Verlustes, den ein Wertpapier oder ein Portfolio erleiden kann, wenn sich der Markt in die falsche Richtung bewegt.
Hochzinsanleihe: Eine Anleihe mit einem Rating unter Investment Grade. Man spricht hier auch von Anleihen ohne Investmentqualität („Sub-Investment Grade“). Diese Anleihen haben ein höheres Zahlungsausfallrisiko und werden daher in der Regel mit einem höheren Kupon begeben, der das zusätzliche Risiko kompensiert.
Titelspezifisches Risiko: Dies ist das inhärente Risiko, das mit der Anlage in einen bestimmten Vermögenswert, z. B. eine Anleihe oder eine Aktie, verbunden ist.
Investment-Grade-Anleihe: Eine Anleihe, die in der Regel von Regierungen oder Unternehmen mit relativ geringem Zahlungsausfallrisiko begeben wird. Die höhere Bonität dieser Anleihen spiegelt sich in den höheren Ratings im Vergleich zu Anleihen wider, denen ein höheres Ausfallrisiko zugeschrieben wird, wie z. B. Hochzinsanleihen.
Normalisierung der Geldpolitik: Das Auslaufen der unkonventionellen Geldpolitik der Zentralbanken (Null- oder Niedrigzinsen und Ankauf kurzfristiger Staatsanleihen), die zur Ankurbelung der Weltwirtschaft nach der globalen Finanzkrise 2008 eingeführt wurde.
Ratings/Kreditratings: Eine Bewertung, die einem Kreditnehmer auf der Grundlage seiner Kreditwürdigkeit zugewiesen wird. Das Rating kann eine Regierung oder ein Unternehmen betreffen, oder auch nur einzelne Schuldtitel oder Finanzverbindlichkeiten dieser Regierungen oder Unternehmen. Eine Körperschaft, die Investment-Grade-Anleihen ausgibt, hat in der Regel ein höheres Kreditrating als eine, die hochverzinsliche Anleihen („High-Yield-Anleihen“) ausgibt. Das Rating wird normalerweise von Ratingagenturen wie Standard & Poor’s oder Fitch vergeben, die standardisierte Bewertungen wie „AAA“ (ein hohes Kreditrating) oder „B-“ (ein niedriges Kreditrating) verwenden. Moody‘s, eine andere weithin bekannte Ratingagentur, verwendet mit Aaa (ein hohes Kreditrating) und B3 (ein niedriges Kreditrating) ein etwas anderes Format (siehe Tabelle unten). Das Ratingspektrum beginnt oben bei AAA (höchste Qualität) und geht dann im Alphabet abwärts bis zu C und D. Diese Ratings signalisieren, dass ein Emittent ausfallgefährdet ist oder bereits in Zahlungsverzug geraten ist.
Die vorstehenden Einschätzungen sind die des Autors zum Zeitpunkt der Veröffentlichung und können von denen anderer Personen/Teams bei Janus Henderson Investors abweichen. Die Bezugnahme auf einzelne Wertpapiere, Fonds, Sektoren oder Indizes in diesem Artikel stellt weder ein Angebot oder eine Aufforderung zu deren Erwerb oder Verkauf dar, noch ist sie Teil eines solchen Angebots oder einer solchen Aufforderung.
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