Schroders: Vom Underdog zum Überflieger? Banktitel unter der Lupe

James Sym erklärt, wieso die Rückkehr der Inflation zusammen mit extrem günstigen Bewertungen eine deutliche Wende für Europas angeschlagenen Bankensektor einläuten könnte.

02.11.2016 | 14:17 Uhr

Unserer Ansicht nach ist eine Anlage im europäischen Bankensektor die vielleicht attraktivste Einzelanlagegelegenheit in unserer Anlageklasse. Es ist die große Seltenheit in der Welt der Investments nach der quantitativen Lockerung (QE): Im Fußball würde man von einer „Steilvorlage“ sprechen, womit ein Ball gemeint ist, der leicht in einen Treffer verwandelt werden kann.

Diese Aussage mag widersinnig erscheinen. Banken waren die Außenseiter in diesem Investitionszyklus, und die Leser sind zweifellos mit den zahlreichen, unablässig beschworenen Risiken für diese Branche vertraut. Wer eine Anlage in diesem Sektor für unklug hält, steht mit dieser Ansicht gewiss nicht alleine da. Unsere Analyse ergibt, dass beinahe neun von zehn professionellen Anlegern in Europa den Sektor untergewichten. Eins steht fest: Gesetzt den Fall, dass diese Aktien in einem derart unbeliebten Sektor unter dem beizulegenden Zeitwert gehandelt werden, wäre ein Wiederanstieg ihrer Kurse unglaublich schmerzhaft für die vielen Portfolios mit geringem oder ohne Engagement.

Warum nehmen wir dann den entgegengesetzten Standpunkt ein? Unsere Anlagethesen werden in der Regel in drei Schritten entwickelt. Als erstes wird festgestellt, warum die Aktien derzeit zu solchen Kursen gehandelt werden. Mit anderen Worten: Wo liegt das Problem? Zweitens wird festgestellt, warum sich die maßgeblichen Faktoren ändern müssen. Drittens, wieviel Geld lässt sich verdienen, wenn sich diese Ausgangsbedingungen ändern?

Banken werden mit extrem günstigen Bewertungen gehandelt

Zunächst ist festzustellen, dass diese Aktien äußerst bis unerhört günstig sind. So dürfte beispielsweise eine der besseren nordeuropäischen Banken in der Regel eine Dividendenrendite¹ von 6 % bieten. Blickt man nach Italien, finden sich sogar Dividendenrenditen im zweistelligen Bereich. Das ist nicht übel, wenn man Geld zum Investieren übrig hat in einer Welt, in der die Zinsen bei 0 % liegen und über die Hälfte aller europäischen Staatsanleihen mit insgesamt weniger als 1 % rentiert.

Aber warum werden Banken zu solch niedrigen Kursen gehandelt? Weil der Markt beinahe definitionsgemäß das derzeitige Rentabilitätsniveau als nicht nachhaltig ansieht. Es gibt Risiken wie Rechtsstreitigkeiten und Regulierung, die gute Schlagzeilen abgeben, sowie die vage Ahnung, dass neue Technologien an die Stelle des herkömmlichen Bankenmodells treten könnten. Es gibt jedoch eine alles überragende, gefährliche Bedrohung, die in den letzten Jahren in ganz Europa das beherrschende Gesprächsthema in den Vorstandsetagen der Banken war: Zuerst die Nullzins- (ZIRP) und dann die Negativzinspolitik (NIRP) der Europäischen Zentralbank (EZB).

Die Geldpolitik hat die Gewinne der Banken geschmälert

Zweifellos hat die „Buchstabensuppe“ aus ZIRP, NIRP und QE die Rentabilität der Banken beeinträchtigt, und solange diese Politik fortgesetzt wird, wird dies auch weiterhin der Fall sein. Für die Glücklichen, die niemals versuchen mussten, sich im Jahresabschluss einer Bank zurechtzufinden, genügt vielleicht die Bemerkung, dass seit der Ankündigung der quantitativen Lockerung durch Mario Draghi im Januar 2015 die Gewinnprognosen für den Bankensektor um über 20 % und die Aktienkurse um über 30 % zurückgegangen sind. Damit wäre das Problem erkannt – die übermäßig lockere Geldpolitik.

Wir meinen aber, dass diese übermäßig lockere Geldpolitik derzeit auf den Prüfstand gestellt wird – und das mit Recht. Warum? Ganz offensichtlich hat sie kaum etwas zur Steigerung der Nachfrage und der Inflation beigetragen und damit ihren Zweck verfehlt. Man bedenke, dass es Japan seit 20 Jahren und der Westen seit fast 10 Jahren mit der Nullzinspolitik versucht hat. In dieser Zeit gab es so gut wie kein Wirtschaftswachstum. An dieser Stelle möchten wir uns nebenbei mit allem Respekt einen Hinweis gestatten: Vielleicht sollten die Modelle der neoklassischen Ökonomen, die niedrige Zinsen mit einem Wirtschaftsboom verknüpfen, neu überdacht werden.

Unbeabsichtigte Konsequenzen – Niedrigzinsen behindern das Kreditgeschäft

Noch beunruhigender ist, dass wir aus eigener Erfahrung zusehends erkennen, wie kontraproduktiv diese Politik für die Schaffung von Wirtschaftswachstum ist. So wurde jüngst auf einem Treffen mit einer der größten europäischen Banken bestätigt, dass sie in Anbetracht ihres niedrigen Aktienkurses (der sich aus niedrigen Zinsen und mithin niedrigen Gewinnen ableitet) ihre einzelnen Geschäftsbereiche anweist, die Kreditvergabe ausschließlich auf die rentabelsten Darlehen mit dem geringsten Risiko zu beschränken. Das ist nicht besonders erfreulich, wenn man als kleines Unternehmen ein neues Produkt auf den Markt bringen oder als inländischer Industriebetrieb eine Fabrik errichten möchte. Machen wir uns nichts vor: Dies ist deflationär und kontraproduktiv.

Kein Wunder, dass europaweit Populisten auf dem Vormarsch sind: Marine Le Pen, Podemos, Cinque Stelle, Alternative für Deutschland und Freedom Party sorgen in den fünf größten Volkswirtschaften der Eurozone für Unruhe. Die große kollektive Weisheit, die in der westlichen Demokratie ihren Ausdruck findet, lässt ihre Muskeln spielen. Der Selbsterhaltungstrieb ist ungemein stark, wenn die Eliten vor die politische Wahl gestellt werden: Ein Beispiel ist der jüngste Meinungsumschwung bezüglich Sparmaßnahmen und fiskalpolitischen Anreizen.

Die Politik ändert sich mit der Rückkehr der Inflation

Aber was ist der Auslöser? Wer führt den politischen Entscheidungsträgern die Hand? Die spontane Antwort lautet: „Das spielt keine Rolle“, denn die meisten Banken werden unter dem Buchwert gehandelt. Damit signalisiert ihnen der Aktienmarkt, dass sie schrumpfen sollten. Geht man davon aus, dass 85 % aller Kredite in der europäischen Volkswirtschaft von den Banken finanziert werden, wird offensichtlich, dass diese Politik nicht nachhaltig und kontraproduktiv ist.

Es gibt jedoch noch einen anderen, kurzfristigeren Faktor, der den Zentralbankern Deckung verschafft, um den Sieg auszurufen und zu einem ausgewogeneren Ansatz zurückzukehren: die Rückkehr der Inflation. In den kommenden ein bis zwei Jahren dürfte die Inflation infolge der Stabilisierung der Rohölpreise wieder anziehen. Die meisten Modelle gehen von einer Gesamtinflation von 1,5 % bis 2 % bis zum Jahr 2018 aus, was dem Ziel der EZB recht nahe kommt. Nachdem sich der Ton beim Thema Fiskalpolitik bereits zu Jahresbeginn geändert hat, hat man gerade erst über eine Änderung der Geldpolitik zu reden begonnen. Es muss also sein. Die Anleiherenditen¹ dürften steigen. In diesem stark verzerrten und manipulierten Markt stimmt ihr Preis nicht.

Kleine Veränderungen der Zinsen = große Auswirkungen auf Gewinne

Kommen wir nun zur dritten und letzten entscheidenden Frage: Warum ist dies für Bankaktien von Bedeutung? Wo liegt das Aufwärtspotenzial? Wir können diese Frage auf mehrere Arten angehen. Für ein Land wie Spanien, wo die Gewinne des Bankensystems recht schnell auf die Auswirkungen einer Zinsänderung reagieren, würde ein Anstieg der Anleiherenditen¹ von 2 % (wie z.B. ein Anstieg der Rendite¹ 10-jähriger Bundesanleihen von -0,2 % auf +1,8 %; nicht gerade begeisternd und lediglich wieder auf das Niveau von 2014) eine Gewinnsteigerung von über 50 % bedeuten. Da sie von einem sehr tiefen Stand ausgehen, würden wir mindestens ebenso viel an Kursgewinnen plus Dividenden erwarten.

Wir können aber auch das Kursniveau des Bankensektors zum Zeitpunkt betrachten, als Anleihen letztmals auf diesem Niveau gehandelt wurden: Auch in diesem Fall ergibt sich eine Rendite¹ von über 50 % für den Sektor insgesamt. Schließlich können wir auch einen eher fundamentalen Ansatz anwenden und analysieren, was der künftige Dividendenstrom heute wert wäre, sofern er sich als nachhaltig erweist. Daraus würde sich ein Aufwärtspotenzial von etwa 200 % ergeben, in einem Umfeld des geringen Wachstums und einer Inflation, die beinahe ihr Zielniveau erreicht hat. Schlussfolgerung: Wenn unser Szenario gestiegener, aber immer noch niedriger Zinsen und einer Normalisierung der Inflation eintreffen sollte, steht diesen Aktien ein Höhenflug bevor.

Banken höherer Qualität sind voraussichtlich die Gewinner

Ein abschließendes Wort zur Titelauswahl. Zwar ist der Sektor insgesamt günstig bewertet, doch ist es unserer Meinung nach wenig sinnvoll, in andere als die allerstärksten Banken zu investieren. Tatsächlich konnten einige Unternehmen selbst in diesem schwierigen Umfeld den Umsatz steigern. Diejenigen, die mit den größten Schwierigkeiten konfrontiert sind, treten Marktanteile an die Gewinner ab, und die Aktien dieser Gewinner bieten mehr als genug Aufwärtspotenzial, um unser Interesse wachzuhalten. Es trifft auch zu, dass in Europa hohe politische Unsicherheit herrscht, weshalb wir meinen, dass „Bottom Fishing“ (d.h. der Kauf der allergünstigsten Banken) kaum etwas bringt.

Zusammenfassend lässt sich erkennen, warum die Investoren in einem Niedrigzinsumfeld einen Bogen um Banken gemacht haben. Ein Anstieg der Zinsen ist jedoch nur noch eine Frage der Zeit, und die Auswirkungen auf die Kurse von Bankaktien könnten durchaus erheblich sein – die Erträge könnten vielleicht eher in Vielfachen statt in Bruchteilen gemessen werden. In Anbetracht unserer Analyse dürfte es Sie nun nicht mehr wundern, warum wir trotz der Tatsache, dass neun von zehn Fonds in Finanzwerten untergewichtet sind, in allen europäischen Aktienfonds Finanzwerte im Allgemeinen und Banken im Besonderen mit am stärksten gewichtet haben.
1 Ertrag einer Kapitalanlage. Sie wird für einen bestimmten Zeitraum, z. B. für ein Jahr berechnet und in Prozent ausgedrückt. Hinweis: Die Angabe erfolgt in der Regel jährlich, wenn dies für das Produkt möglich ist.

Die hierin geäußerten Ansichten und Meinungen stammen von James Sym, Fondsmanager, Europäische Aktien, und stellen nicht notwendigerweise die in anderen Mitteilungen, Strategien oder Fonds von Schroders oder anderen Marktteilnehmern ausgedrückten oder aufgeführten Ansichten dar.

Dieser Artikel erschien am 02.11.2016 auf Schroders.com.

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