Von High-Tech-Gehirnimplantaten bis hin zu bewusstseinserweiternden Arzneimitteln – wir treten in das goldene Zeitalter der Neuroinnovation ein.
06.04.2023 | 09:02 Uhr
Das menschliche Gehirn, das aus 86 Milliarden Neuronen besteht, schenkt uns intellektuelle und kreative Fähigkeiten, die weit über das hinausgehen, wozu andere Spezies in der Lage sind. Aber es ist auch das Organ, über das wir noch viel lernen müssen, insbesondere über seine Krankheiten.
Jeder achte Mensch leidet an einer psychischen Störung, aber es gibt nur wenige wirksame Arzneimittel. Es gibt auch keine Heilung für Alzheimer oder Parkinson, obwohl Milliarden Dollar in die Forschung investiert werden. Für Menschen mit Hirnerkrankungen und -verletzungen, wie Schlaganfall und Lähmung, gibt es keine Technologien, mit deren Hilfe sie sich der Welt mitteilen könnten.
Glücklicherweise treten wir in das goldene Zeitalter der Neuroinnovation ein, die im Gesundheitssektor beginnt und sich in der medizinischen Bewusstseinserweiterung fortsetzt.
Brain Computer Interfaces (BCIs) sind Hightech-Apparaturen, die in das Gehirn eingepflanzt werden, um dessen Signale aufzufangen und in Befehle umzuwandeln. Diese wiederum geben Nachrichten an externe Geräte weiter, damit Aktionen ausgeführt werden, ohne dass der neuromuskuläre Apparat daran beteiligt ist. Das mag wie neurowissenschaftliche Science-Fiction klingen, aber BCIs helfen schon jetzt Menschen mit Behinderungen bei der Bewältigung ihres Alltags.
Das New Yorker Start-up Synchron hat ein Interface entwickelt, das über Blutgefässe auf das Gehirn zugreift. Das als „Brain Bluetooth“ bezeichnete Gerät bietet Menschen mit Lähmung die Möglichkeit, SMS zu schreiben, einzukaufen, E-Mails zu schicken und Bankgeschäfte online zu tätigen.
Und das ist nur eines von vielen Beispielen. Der globale BCI-Markt wurde 2021 auf 1,4 Mrd. US-Dollar geschätzt und dürfte bis 2023 ein Volumen von 3,1 Mrd. US-Dollar erreichen. Das allgemeinere Gebiet der bioelektronischen Medizin – das sich die elektronische Signalübertragung im Nervensystem zunutze macht – wird sich bis 2029 verdreifachen.1 Jetzt schon hilft dieser medizinische Zweig Menschen mit Parkinson, Epilepsie und Hörverlust, und vielleicht wird dies auch bald bei psychischen Krankheiten wie neurodegenerativen, kardiovaskulären und Autoimmunerkrankungen der Fall sein.
Das Unternehmen Nesos aus San Francisco erforscht Möglichkeiten, das Gehirn zu trainieren, um Autoimmunerkrankungen zu bekämpfen. Ihr Versuchsgerät, ein Ohrstöpsel, der mithilfe elektrischer Felder das Gehirn hackt, um Entzündungen und Schmerzen zu lindern, hat sich bei rheumatoider Arthritis als wirksam erwiesen. Das Unternehmen untersucht auch eine mögliche Anwendung zur Behandlung von Depressionen und Migräne.
BCIs und neuronale Apparaturen sind angesichts des dafür nötigen chirurgischen Eingriffs derzeit auf Patienten mit schwersten Behinderungen beschränkt. Um BCIs auf den Massenmarkt zu bringen, müssen erst Fragen zur Machbarkeit, Ethik und Cybersicherheit geklärt werden. Obwohl mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung erforderlich sind, prüfen Unternehmen bereits das Potenzial für eine Kommerzialisierung im Massenmarkt.
BCIs und neuronale Geräte sind nicht der einzige Bereich, in dem
radikale wissenschaftliche Innovation im Gehirn stattfindet. Auch
Wissenschaftler an Universitäten und Biotechnologieunternehmen
interessieren sich zunehmend für einen neuen Ansatz zur Heilung oder
Linderung psychischer Erkrankungen durch psychedelische Substanzen.
Bereits Mitte des 20. Jahrhunderts gelangte die Forschung zu dem
Ergebnis, dass Psychedelika Menschen mit psychischen Problemen helfen
können. Dass sie jetzt wieder an Bedeutung gewinnen – wie an der
zunehmenden Zahl der klinischen Studien und auf psychedelische
Wissenschaft spezialisierten Unternehmen abzulesen ist –, ist nicht ohne
Grund so. Die Qualität der wissenschaftlichen Arbeiten ist dank
verbesserter Neuroimaging-Technologie viel besser geworden. Die
Einstellung zu Psychedelika verändert sich, und Stigmatisierung und
Fehlinformationen scheinen immer weniger ein Thema zu sein. Immer mehr
Länder und Regionen legalisieren psychoaktive Produkte wie Cannabis und
sogar Psilocybin (zu finden in sogenannten „Zauberpilzen“), zuletzt in
Deutschland bzw. Colorado. Die geringe Wirksamkeit von Psychopharmaka
und der ungedeckte Bedarf tragen das ihrige dazu bei, diese
Entwicklungen zu beschleunigen.
Im Rahmen einer Analyse von
Business Insider wurden 11 Venture-Capital-Firmen ausgemacht, die
zusammen rund 140 Millionen US-Dollar in den Psychedelika-Sektor
investiert haben.2 „Es gibt mehr Vereine, Gruppen,
Gesellschaften, Tagungen und Konferenzen denn je, die sich mit
Psychedelika beschäftigen, weil die Menschen vernetzter sind und die
Patienten ihren Einfluss geltend machen“, sagt Dr. Ben Sessa,
Mitbegründer und Bereichsleiter Psychedelische Medizin bei Awakn, einem
britischen Life-Sciences-Unternehmen, das sich auf Suchtthematiken
spezialisiert hat.
Psychedelische Therapie kombiniert
Psychotherapie mit Psychopharmakologie. „Das Psychedelikum ist ein
biologischer Primer, der das Gehirn in einen Zustand der Offenheit und
Plastizität versetzt, während die Psychotherapie den Patienten hilft,
die Krankheit zu überwinden“, erklärt Dr. Sessa. „Schaut man sich an,
welcher Hauptfaktor chronischen, allgegenwärtigen und nicht
behandelbaren psychischen Störungen zugrunde liegt, dann ist es dieses
Gefühl, festzusitzen: diese Unfähigkeit, sich davon zu lösen, sich
nutzlos, als Versager zu fühlen. Was Psychedelika durch den biologischen
Prozess der Neuroplastizität bewirken, ist, eine psychologische
Flexibilität zu erreichen, die es den Patienten ermöglicht, diese tief
im Inneren festsitzenden Narrative anzugehen.“ Es wird diskutiert, ob
Psychedelika auch ohne Therapie eine derartige Wirkung erzielen können.
Als alleiniges Therapiemittel wecken sie starke Emotionen, die Patienten
helfen können, sich mit erlebten Traumata auseinanderzusetzen, aber in
Kombination mit einer Therapie können sie dazu beitragen, psychische
Erkrankungen langfristig unter Kontrolle zu halten.
Das
Fachgebiet steht jedoch vor einer Reihe von Herausforderungen. Erstens
müssen psychedelische Arzneimittel die gleichen strengen klinischen
Studien durchlaufen wie konventionellere Arzneimittel, um für den
medizinischen Einsatz zugelassen zu werden. Um wirklich an Dynamik zu
gewinnen, müssen auch die Gesundheitssysteme und
Versicherungsgesellschaften – die später die Behandlungskosten erstatten
sollen – dahinterstehen. So hat beispielsweise das National Institute
for Healthcare and Excellence (NICE – die britische Behörde, die die
Regierung in Fragen der Arzneimittel-Kostenerstattung berät) dem auf
Ketamin basierenden Nasenspray für Patienten mit Depressionen dreimal
die Zulassung für den Einsatz im Nationalen Gesundheitswesen (NHS) in
England und Wales verweigert, weil man Zweifel an der langfristigen
Wirksamkeit und Bedenken hinsichtlich der hohen Kosten hatte. Von der
MHRA wurde es jedoch für Patienten mit Depressionen zugelassen, die auf
zwei andere Antidepressiva nicht ansprechen, ebenso für den Einsatz im
NHS Schottland.
Wir brauchen auch einen Ordnungsrahmen und
Standards, um sicherzustellen, dass Psychotherapiesitzungen, an denen
psychisch kranke Patienten in labilem Zustand teilnehmen, professionell
abgewickelt werden.
Psychedelika finden bereits durch „Mikrodosierung“ im öffentlichen Konsum Eingang. Dieser Begriff beschreibt winzige Dosen, die unter dem Schwellenwert liegen, der einen halluzinogenen Zustand hervorruft. Das ist der Fokuspunkt der Forscher im Silicon Valley, die die mentalen Grenzen immer weiter zu verschieben versuchen. Das ist möglicherweise nur die Spitze eines grundlegenden Wandels, denn die Menschen versuchen generell, ihre Kognition, Konzentration und mentale Leistungsfähigkeit zu verbessern, unabhängig davon, ob sie ein psychisches Problem haben oder nicht.
Psychedelika sind derzeit nicht die einzigen Produkte, die zur Förderung der Kognition und mentalen Leistungsfähigkeit eingesetzt werden. Nootropika sind frei verkäufliche, mental unterstützende Nahrungsergänzungsmittel, die die Aufmerksamkeit, die Konzentration, den Schlaf und die psychische Gesundheit verbessern. Fast jeder von uns verwendet ein Nootropikum, ob bewusst oder unbewusst. Dr. Tara Swart, Chief Science Officer des Nootropikum-Unternehmens Heights, beschreibt Nootropika als ein Kontinuum, das von B-Vitaminen und Koffein bis zu Arzneimitteln wie Ritalin reicht. Der globale Nootropika-Markt wird von 3,36 Mrd. US-Dollar im Jahr 2021 auf 6,61 Mrd. US-Dollar im Jahr 2026 anwachsen.3
Viele Nootropika machen sich die Wirkung natürlicher Inhaltsstoffe zunutze. Der von dem belgischen Start-up Mindscopic entwickelte Arzneistoff „Clear Focus“ verwendet Bacopa Monnieri, ein Kraut, das die Proteinsynthese in dem Teil des Gehirns stimuliert, der für das Langzeitgedächtnis verantwortlich ist. Studien haben gezeigt, dass diese traditionelle ayurvedische Pflanze die kognitive Funktion deutlich verbessert und die Aktivität von Enzymen hemmt. Dadurch können schädliche Prozesse im Körper gesteuert werden, wie z. B. die Ausschaltung der freien Radikale, die unsere DNA zerstören können.
Mindscopic setzt auch auf Cholin, das bei der Kontraktion der Muskeln, der Aktivierung von Schmerzreaktionen und Gehirnfunktionen wie Gedächtnis und Denken hilft. Obwohl dieser Stoff natürlich im Körper vorkommt, wird die Wirksamkeit höherer Dosen am besten mit Nahrungsergänzungsmitteln erreicht, so Koen Indesteege, CEO und Gründer von Mindscopic. Dieser Nährstoff ist essenziell, aber leider liegen die produzierten endogenen Mengen deutlich unter dem, was für Prozesse wie die Synthese von Neurotransmittern und die Beeinflussung der Leberfunktion erforderlich ist. Den Empfehlungen zufolge kommt man am besten durch Lebensmittel wie Rindfleisch und Eier sowie zusätzliche Nahrungsergänzungsmittel auf diese Mengen.
Indesteege glaubt, dass der Nootropika-Sektor wachsen wird, da die Konsumenten gesündere Alternativen zu Arzneimitteln suchen. Er hat auch festgestellt, dass sich die Öffentlichkeit nach Covid intensiver mit der Förderung der Gesundheit und der Prävention von Krankheiten auseinandersetzt, obwohl es noch immer Tabus zu überwinden gebe. „Lustig ist, dass Kaffee, das am häufigsten konsumierte Getränk der Welt, nootropisch ist und die Menschen fast jeden Tag Kaffee trinken, um ihre Konzentration, Motivation und Wachsamkeit zu steigern, und es ist sozial akzeptiert. Ganz anders aber sieht es aus, wenn es sich in einer Kapsel befindet und als „nootropisch“ bezeichnet wird.“
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