Die Menschen leben immer länger. Das verändert Wirtschaft und Gesellschaft radikal. Michael Strobaek, Global Chief Investment Officer bei Credit Suisse, über Fluch und Segen des demografischen Wandels.
19.12.2017 | 12:49 Uhr
Michael Strobaek: Ich bin ja eigentlich bekannt als Mann der klaren Worte. Bei dieser Frage allerdings muss ich sagen: Der demografische Wandel ist gut und schlecht. Grundsätzlich ist das längere Leben ein Segen. Wer lebt nicht gerne länger, und das erst noch gesünder? Auch für die Wirtschaft ist «Silver Economy» sehr gut – wir kommen sicher noch darauf zu sprechen.
… Aber wegen des demografischen Wandels kommt es zu Finanzierungsproblemen. In vielen Industrieländern sind sie schon akut, hervorgerufen durch eine Kombination von starren Sozialwerken und zu geringer Flexibilität der Arbeitsmärkte.
Die Sozialwerke werden nicht mehr in der Lage sein, die Älteren zu finanzieren. Als in der Schweiz 1948 die AHV eingeführt wurde, arbeiteten über sechs Erwerbstätige pro Rentner. In dreissig Jahren sind es nur noch zwei Erwerbstätige. Seit 1948 ist die Lebenserwartung in der Schweiz um rund 14 Jahre gestiegen, doch das Pensionsalter liegt unverändert bei 65 Jahren.
Wenn die Menschen länger leben, können und müssen sie auch länger arbeiten. Natürlich sind nicht alle Jobs für ältere Leute geeignet, aber ich bin überzeugt, dass es genügend Arbeit geben wird, allenfalls zu tieferen Löhnen. Doch wir müssen noch über etwas anderes sprechen.
Das Hauptproblem ist nicht, dass die Leute älter werden – daran kann man sowieso nichts ändern. Die modernen Gesellschaften kranken daran, dass wir zu wenig Kinder kriegen! Die Leute wollen keine Kinder oder nur eines oder zwei.
Ich habe drei Kinder, kann also aus eigener Erfahrung reden: Ich weiss, wie kompliziert und kostenintensiv es in der Schweiz ist, eine Grossfamilie zu haben. Da läuft viel falsch.
Versuchen Sie einmal als Mutter, eine Stelle in einem Grossbetrieb zu finden, die Sie mit der Kinderbetreuung kombinieren können. Extrem schwierig! Mitten am Tag schickt die Schule die Kinder nach Hause.
Das will man politisch nicht hören in diesem Land: Man will das Thema nicht angehen, wie man kinderfreundliche Jobs schaffen und den Wiedereinstieg von Frauen in die Karriere erleichtern kann. Es braucht einerseits Krippenplätze und Tagesschulen, es muss aber auch gesellschaftlich akzeptiert sein, dass Mann oder Frau um 16 Uhr die Kinder abholt. Dass der Mann auch eine Rolle in der Kinderbetreuung hat, scheint hier noch nicht angekommen zu sein.
Wenn man Migration ausklammert, hat man nicht viele Möglichkeiten, um die Erwerbsbevölkerung und damit die Sozialversicherungen nur schon zu stabilisieren. Plakativ gesagt: mehr Kinder kriegen, Familie und Beruf verträglich machen, später pensionieren. Das ist die einzige Erfolgsformel, die funktioniert.
Das ist schwierig zu sagen und hängt von der jeweiligen Landessituation ab. In Japan etwa, dem Land mit der ältesten Bevölkerung der Welt, liegt das durchschnittliche effektive Pensionsalter von Männern bereits heute bei 69 Jahren. Und es wird derzeit sogar diskutiert, ob die offizielle Definition von «Rentnern» nicht auf 75 Jahre angehoben werden soll. Generell gesagt: Vermutlich wäre es das Beste, das Rentenalter in irgendeiner Form an die Lebenserwartung und an das Wirtschaftswachstum anzubinden.
Die Babyboomer, die nun ins Rentenalter kommen, sind historisch gesehen die wohlhabendste Generation überhaupt, und sie sind die am schnellsten wachsende Altersgruppe unter den Konsumenten weltweit. Sie werden die Nachfragestruktur massiv verschieben. Wenn diese Generation ihre Vermögen ausgibt, ist das für die Volkswirtschaften gut.
Gesundheitsthemen werden wichtiger werden, auch spezielle Lösungen beim betreuten Wohnen und generell Dienstleistungen und Produkte, die auf ältere Leute zugeschnitten sind. Der Bedarf an Sicherheit steigt. Viele können sich heute Reise- und Freizeitwünsche, die im Arbeitsleben nicht befriedigt wurden, nach der Pensionierung erfüllen. Vom Wunsch nach einem aktiven Leben und attraktiven Äusseren dürften auch Anbieter von Fitness- und Schönheitsprodukten sowie Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln profitieren. Die Nachfrage nach Lebensversicherungslösungen, nach spezifischen Vermögensverwaltungslösungen wird steigen. Wir haben diese Phänomene unter den Supertrend «Silver Economy» (nur Englisch) zusammengefasst.
Ja, das glaube ich. Der demografische Wandel ist so gesehen auch eine der grössten Herausforderungen für die moderne Demokratie. Ältere Leute wählen und stimmen – wie alle anderen Gruppen auch – vorwiegend in ihrem eigenen Interesse und erst in zweiter Linie nach nationalen oder allgemeinen Interessen. Sie wollen, wie ich eben ausführte, etwa das Gesundheitswesen sichern, die Betreuung älterer Menschen ausbauen oder auch die öffentliche Sicherheit garantiert haben. Schon im Jahr 2025 wird das Medianalter der Abstimmenden 60 Jahre betragen.
Weil es eine Bevölkerungsgruppe so schafft, alle ihre Interessen durchzusetzen, aber andere dafür bezahlen zu lassen. Man kann das Geld, das es dafür braucht, nicht einfach herbeizaubern. Früher oder später fehlt es. Margaret Thatcher, die langjährige britische Premierministerin, hat das Problem einmal so auf den Punkt gebracht: «The problem with socialism is that you eventually run out of other people’s money.» [«Das Problem mit dem Sozialismus ist, dass einem irgendwann das Geld der anderen Leute ausgeht»]
Genau. Die versprochenen Leistungen bei den Sozialversicherungen übersteigen die Einnahmen bereits heute. Zu hohe Umwandlungs- und technische Zinssätze führen bei den Pensionskassen zu einer Umverteilung zwischen den Generationen. Die Pensionskassenumfrage der Credit Suisse schätzt, dass jährlich rund 5,3 Milliarden Franken von Erwerbstätigen zu den Rentnern umverteilt werden. Das sind 1300 Franken pro Erwerbstätigen und Jahr. Diese Umverteilung in der beruflichen Vorsorge ist gesetzlich nicht vorgesehen. Sogar der Bundesrat sprach ja von einer «illegalen Umverteilung».
Unsere Berechnungen zeigen: Wenn das Pensionsalter nicht erhöht wird, wären sogar 6 Prozent noch zu hoch.
Genau. Viele Leute haben zu wenig Erspartes, wenn sie pensioniert werden. Passiert ihnen etwas, muss der Staat einspringen, also der Steuerzahler. Unsere Pensionskassenumfrage zeigt auch, dass es Leuten mit tieferen Einkommen schwerfällt, privat zu sparen. Für sie bleibt die AHV, also die staatliche Rente, weiterhin sehr wichtig. Viele Leute haben auch in der reichen Schweiz zu wenig, um sich keine Sorgen machen zu müssen – und in anderen Ländern ist die Lage natürlich viel dramatischer.
Das hängt vor allem davon ab, was Sie für Ansprüche haben, wo Sie wohnen und wie viel Miete Sie bezahlen müssen. Nehmen wir an, wir reden von einem Paar aus dem Mittelstand, das in der Agglomeration in einer Mietwohnung für 2000 Franken pro Monat lebt und dessen Kinder schon ausgezogen sind. Meine Schätzung wäre: 5000 bis 6000 Franken pro Monat.
Möglichst viel in der zweiten Säule sparen.
Weil man Einzahlungen in die Pensionskassen von den Steuern abziehen kann. Das ist extrem interessant. Und weil das Geld vom Lohn abgezogen wird – man kommt nicht in Versuchung, es auszugeben. Es müsste aber noch einfacher werden, die Anlagestrategie beim überobligatorischen Teil selber zu bestimmen. Darf ich noch ein anderes Thema aufbringen, das unsere Zukunft ganz massiv prägen wird?
Die technologische Entwicklung, die Roboterisierung und Automatisierung, wird unsere Lebens- und Arbeitswelt in den nächsten 25 Jahren unvorstellbar verändern. Davon werden ältere Menschen profitieren. Es wird möglich sein, dass man Körperteile, ja sogar ganze Organe ersetzen kann. Das Problem der Pflege und Unterstützung älterer Menschen wird durch Roboter gelöst werden.
Nein. Das grösste Thema der Zukunft wird sein, dass Millionen von Leuten arbeitslos werden.
Man muss diesen Leuten den Lebensunterhalt sichern.
Genau, sonst werden die Leute rebellieren wie während der Französischen Revolution, als sie den Adel zur Guillotine auf die Place de la Concorde geschleift haben.
Die Steuerzahler, aber die Frage wird sein: Was ist das Steuerobjekt? Bill Gates hat eine Robotersteuer vorgeschlagen, um die Einkommenssteuern und Sozialabgaben zu ersetzen, die durch die Automatisierung wegfallen. Die Antwort auf diese Frage müssen wir als Gesellschaft noch finden.
Darin liegt wohl die Herausforderung. Die Strukturen der Arbeitswelt müssen durch individuelle und selbstgewählte ersetzt werden. Intrinsische Anreize ersetzen dann extrinsische; die damit verbundenen Schwierigkeiten werden wohl alle schon selber erlebt haben. Wenn die Menschen die materielle Sicherheit haben, dann werden sie sich zum Beispiel in der Betreuung älterer Menschen oder auch von Kindern engagieren können.
So banal es tönt: Eine gute Ausbildung ist das Wichtigste. Dann müssen sich junge Leute irgendwann spezialisieren.
Sie brauchen eine Kernkompetenz, sonst werden sie von der Automatisierung überholt. Und schliesslich werde ich meinen Kindern raten, nach Asien zu gehen, um Mandarin zu lernen und die Welt von dort aus zu betrachten. Die westliche Welt wird nicht mehr die bestimmende Macht der Zukunft, Englisch nicht mehr die Hauptsprache sein.
Daniel Ammann, Journalist
Simon Brunner, Journalist
Cyrill Matter, Fotograf
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