Die Finanzmärkte haben fast ein Jahr lang von den Hilfsprogrammen profitiert. Nun müssen sie sich auf die Auswirkungen einer schrittweisen Rücknahme der Unterstützungsmaßnahmen und Konjunkturprogramme einstellen.
22.07.2021 | 10:53 Uhr
Die ursprünglich zur Bewältigung der Krise ergriffen wurden, so Kevin Thozet Mitglied des Investment Committee von Carmignac.
Wie schätzen Sie die aktuelle Lage an den Finanzmärkten und der Weltwirtschaft ein?
Kevin Thozet : Seit fast einem Jahr erleben die Finanzmärkte dank
der beispiellosen Maßnahmen der Regierungen zur Ankurbelung der Wirtschaft und
auch dank der Unterstützung durch die Zentralbanken einen künstlichen
Aufwärtstrend. Inzwischen ist die Weltwirtschaft dank der Hilfspakete jedoch
wieder auf Kurs, sodass das Thema Wachstum für die Verantwortlichen in der
Politik nicht mehr im Mittelpunk steht. Vor diesem Hintergrund meldet sich der
Konjunkturzyklus nun unausweichlich zurück und ersetzt die beispiellosen
Maßnahmen als treibende Kraft.
Wieso?
K.T. : Die Zentralbanken, die mit ihren Entscheidungen die
Wirtschaftstätigkeit regulieren, ziehen sich zurück. Für sie werden wieder
vermehrt Preisstabilität und ein stabiles Finanzsystem zur Priorität,
wohingegen das Wirtschaftswachstum in den Hintergrund tritt. Gleichzeitig
fahren die Regierungen zahlreiche Unterstützungsmaßnahmen oder Ankündigungen
dieser stärker zurück, da sich das Wirtschaftswachstum immer mehr selbst trägt.
Das wirft allerdings viele Fragen auf, insbesondere im Hinblick auf die
Bedeutung von Hilfspaketen in diesem so außergewöhnlichen Zyklus.
Welche?
K.T. : Was geschieht, wenn die Stimulierungsmaßnahmen auslaufen?
Wie werden die Finanzmärkte auf eine Normalisierung reagieren? Droht dann ein
Absturz? Wird die Schwerkraft sie einholen oder kehren sie auf den Kurs zurück,
dem sie langfristig tendenziell folgen?
Was bedeutet das konkret?
K.T. : Wie wir in den letzten Monaten immer wieder betont haben, dienen die USA während und nach der Krise erneut als Vorbild. Die USA stehen kurz vor einem Wendepunkt. Die US-Notenbank verfolgt aufmerksam die Preisentwicklung und hat dementsprechend ihre Rhetorik geändert. In den kommenden Monaten, vielleicht schon im Herbst, wird sie möglicherweise ihre regelmäßigen Anleihekäufe zur Unterstützung der US-Wirtschaft drosseln, vorausgesetzt, dass sich die Wirtschaftszahlen weiterhin gut entwickeln. Dieser Kurswechsel dürfte sich sehr langsam vollziehen, und die Aussicht auf eine Rückkehr der US-Notenbank zu einer konventionelleren Geldpolitik ist offensichtlich beruhigend – das zeigen die Reaktion an den Finanzmärkten und die unverändert positive Entwicklung von Risikoanlagen.
Ist also in den USA alles in bester Ordnung?
K.T. : Nein, auf keinen Fall. Es lauern durchaus Probleme. Zum
einen scheint sich die Aufmerksamkeit immer stärker auf den Arbeitsmarkt zu
verschieben. Diese stärkere Orientierung an den Arbeitsmarktdaten fördert
tendenziell Schwankungen an den Finanzmärkten, da die Veröffentlichungen selbst
volatil sind und immer wieder korrigiert und saisonal bereinigt werden. Sollte
sich der Arbeitsmarkt besonders robust zeigen, besteht die Gefahr, sich die US-Notenbank
zu Zinserhöhungen gezwungen sieht.
Warum wäre das ein Problem?
K.T. : Es erscheint paradox, da die Aussicht auf einen intakten
Arbeitsmarkt normalerweise eine erfreuliche Nachricht ist. Das aktuelle Umfeld
ist jedoch nicht normal, weil die Weltwirtschaft derzeit eine extrem hohe
Verschuldung aufweist. Das Finanzsystem kann sich einen Zinsanstieg und die
damit einhergehenden höheren Kreditkosten, auf die es inzwischen äußerst
empfindlich reagiert, nicht leisten.
Welches andere Problem könnte entstehen?
K.T. : Was wird geschehen, wenn die US-Notenbank und andere ähnlich
denkende Währungshüter ihre beispiellosen Unterstützungsmaßnahmen, an die sich
die Finanzmärkte gewöhnt haben, reduzieren? Ein solcher Kurswechsel würde
zweifellos früher oder später zu einer Verlangsamung des globalen
Wirtschaftswachstums führen. Bisher scheint die Rhetorik der Zentralbanken auf
ein recht positives Echo zu stoßen. Dennoch sollten sich Anleger auf potenziell
ungünstigere Finanzierungsbedingungen und die entsprechenden Folgen für die
Finanzmärkte vorbereiten – auch wenn dieser Prozess schrittweise ablaufen
dürfte.
Sie sprechen viel über die Zentralbanken. Was ist mit den Maßnahmen der Regierungen?
K.T. : Wir gehen nicht davon aus, dass die Regierungen die
Hilfsmaßnahmen der letzten 18 Monate bis zum Jahresende beenden werden, stellen
uns aber auf eine schrittweise Reduzierung ein. Mit den Nothilfen konnten
zahlreiche Arbeitsplätze gerettet, das Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit von
Unternehmen und Haushalten gewahrt und eine Pleitewelle verhindert werden. Wenn
bestimmte Unterstützungsmaßnahmen reduziert werden, könnte die Zahl der
Unternehmenspleiten und Zahlungsausfälle im Laufe der Zeit wieder steigen.
Der reale Konjunkturzyklus könnte viele Unternehmen einholen ...
K.T. : Genau. Die US-Regierung wird zudem ihre ambitionierten
Ausgabenpläne höchstwahrscheinlich nach unten korrigieren müssen, da ihre
Verhandlungsposition angesichts der wackligen Mehrheit der US-Demokraten
schwierig ist. Daneben besteht die Gefahr, dass die Unterstützungsmaßnahmen der
Regierungen für die Weltwirtschaft in diesem Jahr geringer ausfallen als
ursprünglich erwartet und die vorgesehenen Mittel schon nächstes Jahr sinken
werden.
Ist ein abrupter Abschwung der Weltwirtschaft zu erwarten?
K.T. : Nein. In den kommenden Quartalen dürften die
Volkswirtschaften in den USA und Europa zweistellige jährliche Wachstumsraten
erzielen, befeuert durch die Belebung beim privaten Konsum, im weltweiten
Handel und im Tourismussektor. Danach rechnen wir jedoch mit einer
Verlangsamung. Die chinesische Wirtschaft, die sich bereits früher als andere
Volkswirtschaften erholt hat, kühlt sich bereits ab. Ohne Eingriffe der
Zentralregierung in Peking dürfte das Wachstum in China bis Ende des Jahres unter
sein Potenzial fallen. Das wird auch Auswirkungen auf die europäische
Wirtschaft haben, die besonders sensibel auf das Wachstum in China reagiert.
Wie gehen Sie mit dieser Situation um?
K.T. : Prognosen zum Höhepunkt eines Konjunkturzyklus sind immer eine heikle Sache. In früheren Zyklen läutete eine Drosselung der geldpolitischen Unterstützungsmaßnahmen allerdings stets die Wende des Konjunkturzyklus ein. Das wirkt sich logischerweise auf die Kursentwicklungen an den Börsen aus. Das aktuelle Umfeld ist daher günstig für Aktien, deren Gewinnwachstum weniger vom Konjunkturzyklus abhängig ist. Unser Portfolio ist aktuell mit solchen nicht-zyklischen Titeln bestückt – sie bilden das Rückgrat unserer derzeitigen Investments.
Quelle: Carmignac, Bloomberg, 05.07.2021
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