FundResearch dokumentiert den derzeit nicht alltäglichen Alltag von Finanzprofis. Heute: Helge Müller. Der Geschäftsführer der Vermögensverwaltung Genève Invest erzählt, wie es sich anfühlt, als einziger Verbliebener im ansonsten leeren Genfer Büro zu arbeiten.
01.04.2020 | 08:30 Uhr
Herr Müller, wie sieht Ihr Tag aus?
Helge Müller: Er sieht merkwürdig aus. Ich bin in unserem Genfer Büro der „Last man standing“. Normalerweise arbeiten in unserem Genfer Büro elf Menschen. Jetzt sind alle meine Kollegen zu Hause im Homeoffice. Die Tastaturen und Mäuse sind mit ihnen umgezogen. Die Telefone konnten hierbleiben. Wir haben für die Telefonie eine Cloud-Lösung, die es erlaubt, dass die Anrufe einfach umzuleiten sind. Jetzt stehen hier verwaiste Arbeitsplätze mit schwarzen Bildschirmen und leeren Stühlen. Diese Stille hat etwas sehr Sonderbares.
Was hat sich in den vergangenen Wochen für Sie verändert?
Helge Müller: Für unsere Kunden ändert sich nichts. Nur für uns ist die Situation ungewohnt. Der kurze Dienstweg führt jetzt über eine Glasfaserkabelstrecke. Ich muss derzeit mehr Dinge alleine koordinieren, denn wenn man sich nicht sieht, läuft es fast zwangsläufig darauf hinaus, dass mehr Stränge an einer koordinierenden Stelle zusammenlaufen müssen, um Missverständnisse zu vermeiden. Gleichzeitig führe ich sehr viel mehr Gespräche mit unseren Kunden als vor der Krise. Mein Arbeitsvolumen hat sich deutlich erhöht.
Sind Ihre Kunden denn so nervös?
Helge Müller: Dass wir jetzt mehr miteinander telefonieren, ist ganz normal. Es gibt natürlich Redebedarf. Die Corona-Pandemie ist ja schon ein außergewöhnliches Ereignis. Aber die Befindlichkeiten der Anleger sind sehr unterschiedlich. Die meisten meiner Kunden sind eher ruhig. Dass Mancher sich jetzt grundsätzliche Gedanken über die Welt und auch sein Vermögen macht, ist nicht verwunderlich. Was uns dabei allerdings auffällt: Vermögende Menschen, die ihr Vermögen selbst erarbeitet haben und fest im Geschäftsleben stehen, reagieren derzeit besonnener und ruhiger als beispielsweise Kunden, die ihr Vermögen geerbt haben oder auf eine andere Art zu Reichtum gekommen sind. Es macht offensichtlich für die eigene Gemütslage in solchen Krisen etwas aus, wieviel man von Wirtschaft versteht. Ein weiterer Faktor ist das Alter: Wer in den vergangenen Jahrzehnten schon unser Kunde war, hat auch die Börsenkrisen miterlebt und dabei auch erfahren, dass ein Kurssturz keine Katastrophe ist, wenn man besonnen agiert. Und das tun wir. Unsere beiden Fonds, ein Mischfonds und ein Anleihefonds, haben insbesondere die turbulenten Wochen im März vergleichsweise gut überstanden. Das gibt natürlich zusätzliches Vertrauen in unsere Strategien.
In den vergangenen Tagen ging es ja kurioserweise wieder recht flott aufwärts mit den Kursen. War es das jetzt schon mit dem Crash?
Helge Müller: Das wäre schön. Aber ich denke, dass das erstmal eine erste technische Reaktion auf den kopflosen Ausverkauf an der Börse war. Wenn etwa die Aktienkurse des Flugzeugherstellers Boeing sinken, ist das nachvollziehbar. Aber wenn so ein Unternehmen innerhalb von wenigen Tagen 75 Prozent seines Börsenwertes verliert, dann ist es auch nicht verwunderlich, dass die Aktienkurse wie zuletzt auch wieder steigen. Das muss sich jetzt einpendeln. Wir bleiben wachsam und halten gezielt nach Chancen Aussicht, ohne dabei jetzt hyperaktiv zu werden. Geduld ist wichtig.
Wo erkennen Sie den Chancen?
Helge Müller: Die Konzerne, die schon jetzt Stärke bewiesen haben, werden vermutlich auch nach der Corona-Krise die Gewinner sein, vor allem, weil ich davon ausgehe, dass es in vielen Bereichen eine Marktbereinigung geben wird. IT-Riesen wie Amazon, Apple oder Microsoft gehören für mich zu denen, die davon profitieren werden, dass kleinere, finanzschwächere Konkurrenten weniger gut durch die schwere Zeit kommen. Aber ich muss gar nicht so weit in die Welt oder über den Atlantik schauen. Hier in der Schweiz gibt es sehr starke Konzerne aus den Bereichen Pharmazie, Medizin, Lebensmittel und Wirtschafts-Dienstleistungen. Das sind Konzerne mit ohnehin starker Marktstellung, die im Moment davon profitieren, dass sie nicht so stark von Betriebsschließungen betroffen sind. Das produzierende Gewerbe spielt in der Schweiz keine so große Rolle wie zum Beispiel in Deutschland. In diesen Zeiten ist das für Schweizer Unternehmen ein Vorteil. Dazu kommt: Die Unternehmen können hier problemlos Arbeit ins Homeoffice auslagern. Die Netzinfrastruktur in der Schweiz ist sehr gut ausgebaut. Davon profitiert ja auch unsere Firma. Das ist im Moment ein Segen.
Trotz verstärkter Verlagerung der Arbeit in die Homeoffices gehört die Schweiz zu den sehr stark betroffenen Ländern der Corona-Pandemie. Wie wirkt sich das hier aus?
Helge Müller: Die Straßen sind kaum belebt. Genf lebt ja auch von Versammlungen und Veranstaltungen. Wir haben hier die UNO, wo ich früher auch gearbeitet habe. Das ist normalerweise ein sehr buntes Treiben in der Stadt, mit vielen Kongress- und Übernachtungsgästen aus aller Herren Länder. Ich genieße dieses internationale Flair, denke und lebe global. Deshalb befremdet mich diese Stille in der Stadt und auch die Reisebeschränkungen. Dass im Moment weniger Flugzeuge über der Stadt kreisen, ist zwar einerseits entspannend, andererseits aber auch irgendwie gespenstisch.
Sind denn Ihre eigenen Reisepläne berührt?
Helge Müller: Durchaus. Ich habe Tickets für meine Frau, meine vier Kinder und mich nach Brasilien gebucht. Meine Frau ist Brasilianerin, wir haben uns kennengelernt, als ich ein Semester in Brasilien studiert habe. Ihre Familie lebt in Sao Paulo, diesmal sollte es aber in den Nordosten Brasiliens gehen. Die Tickets sind schon bezahlt. Ob wir im Juli tatsächlich nach Brasilien fliegen werden, steht jetzt aber völlig in den Sternen. Die Regierung dort spielt die Corona-Pandemie herunter, große Teile der Bevölkerung leben völlig unbekümmert weiter wie bisher. Schutzmaßnahmen gibt es kaum. Nur einige mutige Gouverneure und Bürgermeister sind schon gegen den Willen von Präsident Bolsonaro aktiv geworden und haben das öffentliche Leben eingeschränkt und Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung ergriffen. Mit anderen Worten: Es ist anzunehmen, dass die Pandemie-Welle vermutlich große Teile des Landes erfassen wird. Da machen wir uns natürlich Gedanken.
Was macht Ihnen Mut in diesen Tagen?
Helge Müller: Wir haben im März keinen einzigen Kunden verloren. Und unter dem Strich haben unsere Kunden netto sogar größere Summen an zusätzlichem Kapital überwiesen. Wir spüren viel Vertrauen und Zuversicht. Das bestärkt mich und meine Kollegen darin, dass wir vieles in den vergangenen Jahren richtig gemacht haben. Das ist ein gutes Gefühl. Was mir darüber hinaus Mut macht: Ich finde, dass die Art, wie Menschen derzeit miteinander umgehen, irgendwie vorsichtiger und auf eine ganz bestimmte Weise auch respektvoller geworden ist. Vielleicht bleibt davon nach der Krise etwas übrig. Das würde mich freuen.
Herr Müller, vielen Dank für dieses Gespräch.
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