Lange genossen Technologiewerte ein besonderes Umfeld: Bei äußerst niedrigen Zinsen ließ sich Wachstum leicht finanzieren, Wachstum rangierte vor Profitabilität, und Corona beschleunigte die Digitalisierung ganzer Sektoren und Lebensbereiche. In dieser Konstellation waren sie die Lieblinge der Investoren.
22.06.2022 | 07:53 Uhr
Lange genossen Technologiewerte ein besonderes Umfeld: Bei äußerst niedrigen Zinsen ließ sich Wachstum leicht finanzieren, Wachstum rangierte vor Profitabilität, und Corona beschleunigte die Digitalisierung ganzer Sektoren und Lebensbereiche. In dieser Konstellation waren sie die Lieblinge der Investoren.
Doch seit Anfang 2022 hat sich das geändert. Die
strukturellen Treiber, vor allem die Digitalisierung, sind nicht verschwunden,
aber der monetäre Rückenwind hat sich durch die Zinswende in Gegenwind
verwandelt: Wachstum zu finanzieren kostet jetzt mehr. Außerdem bestehen
geopolitische Risiken. In dieser Situation geht vielen Investoren
Profitabilität vor Wachstum. Der Markt passt sich aktuell an dieses neue Umfeld
an. Der Nasdaq 100, der die Entwicklung der 100 größten
US-Technologieunternehmen spiegelt, hat seit Jahresanfang gut 31 Prozent
verloren, der S&P 500, der Aktienindex der 500 größten US-Unternehmen,
dagegen „nur“ 21 Prozent.
Haben wir im April eine Teuerung von 8,3 Prozent gesehen, stieg die Inflation
in den USA im Mai mit 8,6 Prozent auf das höchste Niveau seit 1981. Ursache
sind vor allem höhere Rohstoffpreise und Lieferkettenprobleme. Somit nimmt der
Druck auf die US-Notenbank zu, die Zinsen weiter zu erhöhen. Daraufhin stiegen
die Renditen für 10-jährige Staatsanleihen auf 3,3 Prozent. Höhere Zinsen
machen Technologiewerten zu schaffen, weil zukünftige Gewinne mit einem höheren
Abzinsungsfaktor versehen werden, was wiederum den Gegenwartswert des
Unternehmens mindert. Die höhere Inflation drückt zudem auf die
Verbraucherstimmung.
Diese Kombination aus Inflation und schlechter Verbraucherstimmung macht sich
in vielen Technologiesegmenten bemerkbar. Unternehmen, die eine hohe Basis aus
den Coronajahren gebildet hatten und stark gewachsen sind, müssen nun ihre
Prognosen für das laufende Jahr zurücknehmen. Hier sind vor allem Unternehmen
aus dem E-Commerce-, Social-Media- und Werbesegment zu nennen, deren
Wachstumsraten zurückgehen. Nachdem zum Beispiel Snapchat schon im April
vorsichtige Töne angeschlagen hatte, wurde der Ausblick im Mai aufgrund des
schlechten Konjunkturumfeldes und der abnehmenden Konsumdynamik noch einmal
reduziert. Snapchat ist als Social-Media-Unternehmen darauf angewiesen, dass
Kunden für verschiedene Arten von Anzeigeprodukten auf der Plattform Geld
ausgeben. In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit werden solche Ausgaben jedoch
oft als erste reduziert. Insofern prüfen auch viele Technologiekonzerne und
Startups nun Kostensenkungsoptionen. So werden Neueinstellungen erst einmal
aufgeschoben (Snapchat, Netflix, Microsoft, Facebook, Amazon, Gorillas, Klarna
usw.), oder einzelne Mitarbeiter werden sogar entlassen. Tesla etwa kündigte
einen weltweiten Einstellungsstopp an und prüft, die Mitarbeiterzahl um zehn
Prozent zu reduzieren.
Ein weiterer Faktor, der wie ein Brandbeschleuniger für den Technologiesektor
wirkt, sind die Investoren, die ihre zum Teil starke Übergewichtung in dem
Sektor reduzieren. In Hochzeiten der Corona-Pandemie, als viele Menschen im
Home-Office saßen, stemmten nicht-professionelle Investoren rund 30 Prozent des
Handelsvolumens der sogenannten „Corona-Gewinner“, darunter Unternehmen wie
Peloton, Netflix oder Zoom, über Trading-Plattformen wie Robinhood. Nun sind es
unter zehn Prozent des Handelsvolumens, und die meisten Anleger werden ihre
Positionen mit Verlusten verkauft haben. Aber auch professionelle Investoren
haben in den letzten Monaten den Abverkauf befeuert und die Sektor-Rotation
angeheizt. Laut Goldman Sachs haben Hedge-Fonds im ersten Quartal die Sektoren
Technologie, zyklische Konsumgüter und Dienstleistungen um 15 Prozent abgebaut
und Energie, Rohstoffe, Industrie und Banken um 13 Prozent aufgebaut.
Hier muss man allerdings genauer differenzieren. Manche von der Pandemie
befeuerten Trends sind verschwunden, andere jedoch haben noch an Momentum gewonnen
und werden das Umsatzwachstum der Unternehmen treiben. Somit hinkt der
Vergleich mit der „Dotcom-Blase“ von vor knapp 20 Jahren etwas. Einige
Geschäftsmodelle von damals existierten nur auf dem Papier, waren unprofitabel
oder nicht real. In den vergangenen 20 Jahren hat sich das geändert. Begünstigt
durch die Demografie und das sich ändernde Kundenverhalten gab es eine
nachhaltige Wende hin zu digitalen Technologien und Dienstleistungen, die nun
überproportional profitabel sind und meistens höhere Margen erwirtschaften als
klassische Unternehmen.
Durch den aktuellen Abverkauf und die somit deutlich günstigeren Bewertungen in
einer Branche, in der strukturell zugrundeliegende Trends intakt sind, könnten
sich nun Fusionen und Übernahmen häufen. Auf dem Höhepunkt der Dotcom-Blase
hatten die Technologiewerte im S&P 500 ein Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von
62,3, das heutige KGV im Nasdaq 100 liegt dagegen bei 24,1. Auch die
EBIT-Margen liegen heute im Nasdaq 100 mit 20,1 Prozent oberhalb des S&P
500 mit 16,1 Prozent, obwohl einige der Nasdaq-Unternehmen noch keine Gewinne
machen. Von 2015 bis heute konnten sich die durchschnittlichen Umsätze der
Nasdaq-Werte fast verdoppeln, die aus dem S&P 500 stiegen dagegen nur um 48
Prozent. Die Nettoschulden zu EBITDA liegen im Nasdaq 100 bei 0,65x und im
S&P 500 bei 1,0x. Diese Vergleiche zeigen, dass die Tech-Werte besser
aufgestellt sind als früher und durch die wirtschaftlich guten Jahre auch
gewisse Cash-Polster aufgebaut haben, um in schlechteren Zeiten Liquidität für
Aktienrückkaufe, Dividenden oder Zukäufe zu haben. Auch für
Private-Equity-Investoren könnte der Abverkauf interessant sein. Die
Beteiligungsgesellschaft Argos Wityu, die Private-Equity-Transaktionen rund um
europäische Unternehmen analysiert, konstatiert eine Angleichung der
Bewertungen unterschiedlicher Branchen. Zahlten Käufer für Technologiefirmen im
Schlussquartal 2021 noch vier EBITDA-Beträge mehr als für andere
Industrieunternehmen, schrumpfte die Differenz im ersten Quartal auf einen
EBITDA-Betrag. Denn das Interesse für renditestarke Transaktionen in der
Private-Equity-Branche ist weiterhin hoch. So meldete Advent, eine
angelsächsische Beteiligungsgesellschaft, jüngst den Abschluss eines neuen Fonds
über 25 Milliarden Dollar. Er gilt als zweitgrößter Fonds der Welt.
Im Technologiesektor sind vor allem Unternehmen attraktiv, die sich auf
Cybersecurity spezialisiert haben. Durch die wachsende Digitalisierung der
Unternehmen und den aktuellen Konflikt in der Ukraine steigt weltweit auch die
Anfälligkeit für Cyber-Attacken. Mussten Unternehmen früher in analogen
Werkschutz investieren, um ihr Warenlager zu schützen, brauchen sie heute
digitale Sicherheitssysteme. Die Nachfrage an Cyber-Security-Lösungen wird
mindestens so stark steigen wie die Digitalisierungsrate in den Unternehmen,
einfach um geistiges Eigentum zu schützen. Der Branche stehen dadurch hohe
Investitionen bevor, sodass die weltweiten Umsätze mit Cybersicherheit bis ins
Jahr 2026 um knapp 60 Prozent auf 345 Milliarden Dollar steigen könnten. Schon
im Januar kündigte US-Präsident Joe Biden an, dass Unternehmen und
Regierungseinrichtungen bis 2025 ihr Netzwerk auf eine Zero-Trust-Architektur
umstellen müssten. Platzhirsch für vertikale Sicherheitslösungen ist Palo Alto
mit einem Marktanteil von knapp 20 Prozent, gefolgt von Fortinet und Cisco.
Spannende Investitionsmöglichkeiten gibt es auch für Cloud- und
Software-Anbieter, da sich diese oft durch hohe Margen und wiederkehrende
Umsätze auszeichnen. Der Trend zur Cloud ist ungebrochen und hat sich zuletzt
sogar noch einmal beschleunigt. Haben Unternehmen ihre Server früher oft selbst
betrieben, greifen sie nun für die Cloud fast ausschließlich auf externe
Anbieter zurück. Dies bietet den Vorteil, dass Kapazitäten nicht lokal
bereitgestellt werden müssen und bei Bedarf einfach angepasst werden können.
Die Kosten für das Betreiben oder die Anschaffung der Server entfallen. Auch
Software könnte weiter Potenzial haben. Eine der großen Veränderungen der
vergangenen Jahre war die Umstellung vom Kaufen aufs Abonnieren von Software –
Stichwort „Software as a Service“ (SaaS). Früher haben Kunden eine Softwarelizenz
individuell gekauft und lokal installiert. Heute nutzen Unternehmen oder
Privatpersonen eine Anwendung über das Internet und zahlen für die Nutzung,
nicht für das Programm selbst. Updates und Wartung der Software entfallen, und
das Unternehmen, das SaaS-Service zur Verfügung stellt, erhält eine monatliche
Gebühr. Die Vorteile sind kalkulierbare, wiederkehrende Einnahmen, ein stabiler
Cashflow und dauerhafte Kundenbindungen – aber auch eine gewisse Abhängigkeit.
Einige Softwareunternehmen, darunter Adobe, Salesforce, Intuit oder Autodesk
können über 90 Prozent ihrer Umsätze als wiederkehrend verbuchen. Solche
verlässlichen Einnahmen sind für Investoren gerade dann interessant, wenn die
konjunkturelle Lage ungewiss ist.
Zurzeit muss man genau analysieren, welche Technologieunternehmen eine
Investition lohnen könnten. Allerdings bietet jeder Abverkauf auch Chancen, und
teilweise sind Unternehmen weit unter ihre durchschnittliche Bewertung der
letzten Jahre gerutscht. Selektive Analysen und Auswahlverfahren sind daher
äußerst wichtig. Eine eventuelle Rezession könnte den Technologiewerten sogar
helfen: Die Inflation würde sich abkühlen, der Druck von der Zinsseite ginge
zurück, und Wachstum ließe sich wieder günstiger finanzieren. Was zudem
für Technologietitel spricht: Sie sind weniger abhängig von Rohstoffpreisen und
Lieferketten und können Preiserhöhungen meistens gut an den Kunden
weitergeben.
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