Die globale Automobilproduktion wächst normalerweise auf ähnlichem Niveau wie das globale BIP – allerdings sehen wir seit 2019 eine Abkopplung dieses langfristigen Trends.
18.07.2022 | 12:05 Uhr
Die Wachstumsaussichten des globalen Automobilsektors haben sich jedoch nicht strukturell verändert, sie sind vielmehr durch eine Verkettung unterschiedlicher Umstände unter Druck geraten.
Nehmen wir den Corona-Ausbruch 2020 als Startpunkt – hier wurde nach dem
scharfen Einbruch die schnelle Erholung von der Industrie zunächst massiv
unterschätzt und Bestellungen von Zuliefererteilen, unter anderem Halbleitern,
deutlich gekürzt. Die Halbleiterindustrie vergab die freien Kapazitäten an
andere, vor allem durch den Homeoffice-Trend boomende Industrien, wie
beispielsweise die PC- und Elektronikbranche. Somit war der „Perfekte Sturm“
für die Automobillieferketten programmiert, und der Zugriff auf die benötigten
Kapazitäten ging verloren. Dieses Thema zieht sich seit 2021 wie ein roter
Faden durch die Automobilindustrie und ist der Hauptgrund für die diversen
Produktionskürzungen in den letzten 18 Monaten. Bis heute befindet sich die
Branche in einem Zustand mit künstlich verknappten Produktionsvolumina, auch
wenn sich die Situation nun nach und nach verbessert.
Die Lieferkettenproblematik hat der Automobilindustrie eine noch nie dagewesene
Preisdisziplin (keine Rabatte!) ermöglicht, welche sich unter anderem in massiv
gestiegenen Gebraucht- und Neuwagenpreisen spiegelt. Vielen
Automobilherstellern haben das eingeschränkte Angebot und die boomende
Nachfrage zu Rekordmargen verholfen – Mercedes beispielsweise fühlte sich
aufgrund der starken Nachfrage und langen Lieferzeiten im Februar sogar
gezwungen, einen Bestellstopp für die E-Klasse auszurufen - ein absolutes
Novum.
Die Informationslage zu Halbleiterlieferketten, basierend sowohl auf
persönlichen Gesprächen mit Branchenvertretern als auch auf Lagerbestandsdaten,
deutet zuletzt auf eine deutliche Entspannung am Markt hin. Die
Produktionseinschränkungen hängen derzeit an einer relativ geringen Anzahl von
Bauteilen, wie beispielsweise Microcontrollern, während in vielen anderen
Bereichen mittlerweile wieder signifikante Lagerbestände vorhanden sind. Die
Lieferkettenengpässe sollten sich somit im Laufe des zweiten Halbjahres und
2023 deutlich verbessern.
Bei einer potenziell anstehenden Volumenerholung drängen sich jedoch diverse
Fragen auf: Hat die Branche aus vergangenen Fehlern gelernt und ist die
aktuelle Preisdisziplin nachhaltig? Inwiefern stützen hier Aufholeffekte aus
ausgefallener Produktion der letzten Jahre die Nachfrage? Welche Rolle spielt
eine zunehmend wahrscheinlicher werdende Rezession in diesem Szenario?
Entgegen diverser Beteuerungen der Automobilindustrie gehen wir davon aus, dass
in einem Szenario, in dem das Angebot nicht mehr limitiert ist, auch die
Preisdisziplin wieder abrupt schwinden wird und die Margen der Automobilhersteller
deutlich unter Druck kommen werden. Insbesondere bei den Volumenherstellern
wird dies der Fall sein. In der Vergangenheit hatten Luxusmarken oder auch die
Oberklasse-Modelle der Premiumhersteller jedoch weniger Probleme, ihre Margennivaus
zu halten.
Das derzeit relativ geringe Produktionsniveau, der Nachfragestau der letzten
Jahre sowie das ansteigende Durchschnittsalter der PKW-Flotten in den USA
und Europa sollten unterstützend wirken. Zudem sollte auch der operative Hebel
bei höheren Produktionsmengen und Effizienzgewinnen nach dem Lieferkettenchaos
helfen.
Das zunehmend realistisch erscheinende Rezessionsszenario in Europa und
potenziell auch in Amerika wirkt perspektivisch deutlich dämpfend auf die
Volumenerholung. Automobilnachfrage ist traditionell hoch zyklisch – ein
klassisches „diskretionäres Konsumgut“, welches zudem ein absolut gesehen hohes
Preisschild trägt. Daher besteht schnell das Risiko, dass solche Ausgaben
aufgeschoben werden.
Auch wenn die Auftragsbücher der Automobilkonzerne aktuell noch sehr gut
gefüllt sind, werden erste Signale eines potenziellen Abschwungs sichtbar.
Volkswagen beispielsweise sieht erste Anzeichen einer sich abschwächenden
Nachfrage in Europa. Auch klassische Indikatoren für Konsumgüter, wie beispielsweise
das Verbrauchervertrauen, sehen aktuell denkbar ungünstig für den Sektor aus.
Für Automobilproduzenten in Deutschland, in die sich mittlerweile auch Tesla
einreiht, gibt es ein zusätzliches Thema, das für Verwerfungen sorgen könnte –
die Gasversorgung der Industrie, welche bei einem anhaltenden russischen
Lieferstopp staatlich rationiert werden könnte.
Die direkte Abhängigkeit der deutschen Automobilindustrie von Gas ist auf den
ersten Blick mit Sicht auf Verbrauchsdaten und Kosten relativ
überschaubar. Volkswagen beispielsweise ist mit eigenen erneuerbaren Energien
und einem eigenen Kohlekraftwerk in Wolfsburg energieautark, jedoch liegt der
Teufel im Detail. Bei erheblichen Einschränkungen in der Gasversorgung ist
anzunehmen, dass manche betroffenen Zulieferer, wie die Chemieindustrie,
Probleme bekommen und somit auch die Hersteller wieder mit
Lieferkettenproblemen zu kämpfen haben.
Abseits von der aktuell brisanten Rezessions- und Gasversorgungsthematik
schreiten auch die langfristigen Dekarbonisierungspläne der Europäischen Union
weiter voran. Ende Juni wurde im Rahmen des „Fit for 55“-Programms das
faktische Verbrenner-Aus für Neufahrzeuge ab 2035 beschlossen und somit der
ohnehin schon eingeschlagene Weg in Richtung Elektrifizierung der Flotten
weiter gestärkt. Potenzielle Ausnahmen könnten hier noch die Verwendung von
E-Fuels bieten, welche explizit offengelassen wurden.
Die Automobilaktien beziehungsweise der europäische Automobilsektor sind seit
dem Jahreshoch im Januar mittlerweile um ca. 30% gefallen. Mit Hinblick auf
eine mögliche Rezession in Europa ist der Kursverfall historisch betrachtet
(gemessen an Rezessionen seit 1990) bisher noch moderat ausgefallen. Im
Durchschnitt liegt der Kursverfall vom Vorrezessionshoch auf Rezessionstiefs im
Automobilsektor bei nahezu 53% – somit sind historisch betrachtet die
technischen Tiefststände noch nicht erreicht.
Generell ist in einem rezessiven Szenario in zyklischen Sektoren Vorsicht
geboten, vor allem, da sich im Automobilsektor die Analystenschätzungen für
nächstes Jahr durchaus als zu optimistisch entpuppen könnten. Somit sind
selektive Investitionen in den Sektor ratsamer als in der Breite.
Automobilzuliefereraktien weisen relativ zu den Automobilherstelleraktien
aufgrund der fehlenden Preissetzungsmacht über die letzten 24 Monate eine
deutlich schlechtere Performance auf und bieten somit vermeintliches
Aufholpotenzial. Wir glauben allerdings, dass es aufgrund der vermutlich
anstehenden Rezession hierfür noch zu früh ist, auch wenn die Entspannung der
Lieferketten bei Halbleitern isoliert für eine Volumenerholung spricht.
Bei zinssensitiven Firmen mit Start-up Charakter, also mit hohen Bewertungen
und ohne nennenswerte Gewinne, bleibt Skepsis auch nach signifikanten
Kursabschlägen im aktuellen Marktumfeld weiter angebracht. Starke Bilanzen,
über die die meisten deutschen Automobilkonzerne verfügen, sind in unruhigen
Zeiten von großem Vorteil, da diese auch für Aktienrückkäufe genutzt werden
können (siehe z.B. BMW).
Werte mit unternehmensspezifischen Sondersituationen können sich oft anders
entwickeln als der Gesamtmarkt. Ein Beispiel hierfür ist die Porsche Holding AG
– die Holdinggesellschaft der Familien Porsche und Piëch, welche mit einem
Abschlag von 31% zu ihrem inneren Wert (Net-Asset-Value) handelt. Dieser Wert
setzt sich in erster Linie aus nahezu 32% der Volkswagenaktien und einer
Netto-Cash-Position zusammen. Der anstehende Börsengang der Porsche AG, also
des operativen Porsche-Automobilgeschäfts, kann diesen Abschlag zum inneren
Wert transparenter machen.
Wichtig in einem inflationären Umfeld ist – wie in allen Branchen – eine starke
Preissetzungsmacht. Das findet man weniger bei Volumenherstellern, dafür aber
bei Luxusherstellern.
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