China: Chancen durch Wachstumsverlangsamung?

Das Wachstum der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt schwächt sich ab. Wir erläutern, warum das für Anleger die nächste Phase der Wachstumsstory Chinas ist und wie sie davon profitieren können.

18.06.2012 | 13:43 Uhr

Die chinesische Zentralbank hat vor kurzem ihre Leitzinsen gesenkt. Was bedeutet das für die chinesische Wirtschaft?

Die erste Zinssenkung seit 2008 bestärkt uns in unserer Einschätzung, dass die chinesische Regierung mit Entschlossenheit auf die wirtschaftliche Abschwächung reagiert. Wir haben sicherlich noch nicht den Tiefstand der Abkühlung erreicht und die Zinssenkung hat uns darin bestätigt, dass eine harte Landung 2012 nicht stattfinden sollte. Anleger dürfen nicht vergessen, dass die Zentralbank viele weitere Maßnahmen einleiten kann, um Wachstum zu beschleunigen – falls das notwendig sein sollte. Wir gehen davon aus, dass die Regierung in den kommenden Monaten stützende fiskalpolitische und geldpolitische Maßnahmen ergreifen wird, um die Wirtschaft stabil zu halten, wenn es Ende des Jahres zu einem politischen Machtwechsel kommt.

Die Konjunkturabkühlung in China macht sich allmählich in der Realwirtschaft bemerkbar. Besteht für die Anleger Grund zur Sorge?

Seit den Maßnahmen, die 2009 zur Stützung der Konjunktur unternommen wurden, hat China zweistellige Wachstumsraten verzeichnet, die beeindruckend, aber nicht nachhaltig waren. Nun hat eine unausweichliche Wachstumsverlangsamung eingesetzt, die eine Reihe interner und externer Herausforderungen mit sich bringt. Die Konjunkturabkühlung ist jedoch Teil einer dringend benötigten Neuausrichtung des chinesischen Wirtschaftsmodells, die der Region unserer Ansicht nach auf lange Sicht zu Gute kommen wird. Zudem hat der Abschwung die Inflationsängste und die Sorgen über ein Überhitzen der Wirtschaft weitgehend zerstreut. China diversifiziert seine Wirtschaft allmählich und der private Verbrauch nimmt zu.

Bislang ist es der chinesischen Regierung gelungen, eine Wachstumsverlangsamung ohne gravierende Folgen für die Märkte zu bewerkstelligen. So entsprach der Konjunkturrückgang im ersten Quartal den Erwartungen. Mit einem Wachstumsziel von 7,5 Prozent für das Jahr 2012 gehört China nach wie vor zu den wachstumsstärksten Ländern weltweit. Die Verlagerung des Wachstumsmodells – von Investitionen, Infrastruktur und Export auf die Binnenwirtschaft – ist im Falle von China schon längst überfällig.

„Die tatsächlichen Marktrisiken werden von den allgemein erwarteten Risiken bei Weitem übertroffen. Dadurch entstehen attraktive Gelegenheiten für Anleger, die zwischen den beiden Konzepten unterscheiden können.“

Die Bedenken über notleidende Kredite im Bankensektor nehmen zu. Wirkt sich dies auf Ihre Anlageentscheidungen aus?

Ja, wir verfolgen die Entwicklung des chinesischen Bankensektors stets mit großer Aufmerksamkeit. Wir behalten daher das Engagement der Banken in Krediten der Lokalregierungen genau im Auge. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass China seine Banken bei Bedarf refinanzieren kann. Das Problem notleidender Kredite ändert daher nichts an der langfristigen Wachstumsdynamik, die China zu einem derart wichtigen Markt für sämtliche Anlegerkategorien macht.

Welche Regionen und Sektoren werden voraussichtlich am stärksten unter der Konjunkturabkühlung leiden?

Am schlimmsten dürfte es wohl Japan, Korea und die EU treffen. Das waren die Regionen, die in den vergangenen zehn Jahren die Wachstumsmaschinerie in China angetrieben haben. Eine Wachstumsverlangsamung Chinas wird die Exporttätigkeit in diesen Märkten stark beeinträchtigen. Längerfristig sind es jedoch genau Japan, Korea und die EU, die von einer effizienteren chinesischen Wirtschaft am meisten profitieren sollten.

Auf Sektorebene sollten Finanz-, Bank- und Immobilienwerte voraussichtlich weiterhin volatil bleiben. Auch Industrietitel sind unseres Erachtens aufgrund der schwächeren Nachfrage unter Druck geraten. Dennoch sind wir zuversichtlich, dass es sich um einen relativ kurzfristigen Abschwung handelt. Dadurch bietet sich den Anlegern eine attraktive Gelegenheit, ein Engagement in China aufzubauen, während das Land seine Wirtschaft auf ein nachhaltigeres – und rentableres – Wachstumsmodell umstellt.

Die kommenden Monate dürften schwierig werden. Allerdings rechnen wir 2013 mit einer kräftigen Erholung und Stabilisierung. In der Zwischenzeit werden wir Kursschwächen nutzen, um unsere bevorzugten Titel aufzustocken. Wir sind von Chinas Wachstumsstory überzeugt und glauben, dass die derzeitige Schwächephase schließlich durch die interne Wachstumsdynamik des Landes überwunden werden kann. Die Binnennachfrage und der Konsum sind gegenwärtig robust und China wächst trotz der Konjunkturabkühlung schneller als alle anderen wichtigen Volkswirtschaften der Welt.

Wie hat sich die Wachstumsverlangsamung auf die Stimmung in China ausgewirkt?

In China gibt es trotz der gedrückten Stimmung erfreuliche Nachrichten. Die Unternehmensergebnisse für das erste Quartal 2012 zeigen, dass Konsumtitel nach wie vor ein starkes Wachstum verzeichnen. Das lässt darauf schließen, dass die Verbraucher in China den Gürtel nicht enger schnallen.

Anders als Europa kann China seine aktuellen Probleme durch Wachstum überwinden. Die demografischen Faktoren sind weiterhin vergleichsweise günstig, das Bildungsniveau und die Qualifikationen der Bevölkerung sind gut und verbessern sich weiter, und die Infrastruktur wird ausgebaut. Von entscheidender Bedeutung ist zudem, dass die Verschuldung der Privathaushalte und der Regierung gering ist.

Belasten die weltweiten Konjunktursorgen die Entwicklung in China?

Die Exportmärkte haben am stärksten unter den weltweiten Turbulenzen gelitten. Vor allem die Krise in der Eurozone hat zu einem Rückgang der Exporttätigkeit geführt, was die Sektoren unter Druck setzt, die besonders stark von der Auslandsnachfrage abhängig sind. Wie bereits angesprochen, wird China den Schwankungen der Weltwirtschaft im Laufe der Zeit dank der Neuausrichtung des Wachstumsmodells weniger stark ausgesetzt sein.

Wie sollten sich Anleger in Anbetracht dieser Risiken positionieren?

Anleger sollten bei Investments in einem so spezifischen Markt wie China im ersten Schritt auf Qualitätstitel setzen. Zudem sollten sie auf die Qualität des Managements, die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens, die Ertragsstabilität und die Bewertungen achten. Daneben analysieren wir sektorspezifische und makroökonomische Variablen.

Derzeit sehen wir zum Beispiel Ertragspotenzial im Technologiesektor, und auch der Energiesektor sollte von denVeränderungen des Konsumverhaltens in den ländlichen Gebieten profitieren. Unsere Analysten vor Ort ermittelnattraktive Titel in diesen Sektoren, nachdem die jüngste Kursschwäche einige interessante Kaufgelegenheiten eröffnet
hat.

Aus politischer Sicht ist 2012 ein wichtiges Jahr für China. Was erwarten Sie von der neuen Regierung?

Aufgrund des politischen Systems in China ist wenig über die Schwerpunkte, die eine neue Regierung setzen will, bekannt. Der im Jahr 2011 veröffentlichte Fünfjahresplan hat signalisiert, dass der Fokus auf der Umverteilung des Wohlstands, sauberen Energien und – wie bereits erwähnt – der Neuausrichtung des Wachstumsmodells der Wirtschaft liegen wird.

Verschiedene Programme zur Neuausrichtung laufen bereits und machen gute Fortschritte. Dazu zählen Initiativen zur Steigerung der Einkommen und zur Anhebung des Mindestlohns. Auch die Sozialhilfe- und Sozialversicherungsreformen sind gut vorangeschritten und dürften den Konsum ankurbeln, insbesondere bei den ländlichen Haushalten. Mittelfristig dürfte die Autobranche und besonders der Gebrauchtwagenhandel von Subventionen profitieren. Diese und andere Initiativen werden vorangetrieben und voraussichtlich dafür sorgen, dass sich China von den anderen BRIC-Ländern abheben wird und sich von einem Land der Unter- bis Mittelschicht zu einem reichen Land entwickeln kann.

Die meisten Marktbeobachter sind sich einig, dass China innerhalb der nächsten 15 Jahre die USA als größte Wirtschaftsmacht der Welt ablösen wird. Obwohl sich die Wachstumsstruktur weniger schnell ändert, als es sich viele Anleger wünschen, werden die nächsten 24 Monate wichtige Chancen bieten. Ein Markteinbruch könnte Anlegern eine einzigartige Gelegenheit geben, an der Entwicklung eines Landes zu partizipieren, das weiterhin als Wachstumsmotor der Weltwirtschaft fungiert.

Während sich die Anleger noch mit der Frage beschäftigen, ob China eine weiche oder sanfte Landung bevorsteht, ist diese Landung unseres Erachtens bereits erfolgt, und die Anleger sollten sich jetzt auf die Titelauswahl konzentrieren, die in Zukunft ausschlaggebend für Wertzuwächse sein wird.

Der Marktkommentar im pdf-Dokument

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