Mitte Dezember werden die Mitglieder des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB) zu ihrem letzten Treffen des Jahres zusammenkommen.
29.11.2021 | 11:04 Uhr
Es dürfte kaum ein Zweifel bestehen, dass die Inflationsprognosen des EZB-Stabes,
auf die die Notenbanker ihre geldpolitischen Überlegungen und Entscheidungen stützen, merklich nach oben
revidiert werden müssen. Die EZB erwartet derzeit, dass die Inflation nur durch temporäre Faktoren verursacht
wird und die Verbraucherpreise im Jahr 2022 nur um 1,7% und im Jahr 2023 um 1,5% steigen werden. Es besteht
die Gefahr, dass der Preisauftrieb länger anhalten und die Inflation im Jahr 2022 deutlich über der Marke von 2%
liegen wird, die die EZB mit ihrer Geldpolitik mittelfristig anstrebt. Eine hohe Nachfrage trifft auf ein begrenztes
Angebot, die Preise steigen. Der Druck auf die EZB nimmt zu, die Inflationsprognosen anzupassen angesichts des
Nachfragesogs und des Kostendrucks in der Wirtschaft.
Die EZB scheint allerdings an ihrer Einschätzung festzuhalten, dass die deutliche Beschleunigung der Inflation auf
aktuell über 4% eine vorübergehende Erscheinung ist. Für die EZB sind es vor allem einmalige Faktoren (insb. der
rasche Wiederanstieg des Ölpreises von den Tiefständen des Jahres 2020) und eine Verknappung des Angebots
infolge von Produktionsausfällen und Lieferengpässen, die für den Preisschub verantwortlich sind. Anders vielleicht
als in den USA spielt die Nachfrage nach Einschätzung der EZB keine besondere Rolle. In den Worten von
Christine Lagarde: “...der Euroraum erlebt eine starke Aufholbewegung der Nachfrage, aber wir sehen keine
Überschussnachfrage. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ist aktuell niedriger als vor der Krise“ 1).
Die Grundannahme der EZB-Verantwortlichen ist, dass die Output-Lücke und entsprechend auch eine
disinflationäre Grundtendenz in Europa fortbestehen. Diese Sicht spiegelt sich in den längerfristigen
Inflationsprognosen. Die Schlussfolgerung der EZB ist, dass die Notenbank Geduld und Beharrlichkeit zeigen
muss: Auf kurzfristige und vor allem angebotsseitige Preissteigerungen mit einer Straffung der Geldpolitik zu
reagieren, würde die ohnehin unzureichende Nachfrage zusätzlich bremsen und die wachstumsdämpfende
Wirkung der Kaufkraftverluste noch verstärken. Die Devise lautet also: Füße stillhalten.
Doch so eindeutig ist die Sache vermutlich nicht mehr. Der Preisschub bei Haushaltsenergie (Gas, Strom)
beispielsweise arbeitet sich nur langsam bis zum Verbraucher vor. In Deutschland, wo längerfristige Verträge
typisch sind, dürften die Preisanpassungen noch eine ganze Zeit andauern und die Preisstatistik beeinflussen. Es
gibt auch keine Garantie dafür, dass die Knappheit beispielsweise von Halbleitern rasch überwunden wird.
Eine entscheidende Frage ist, inwieweit die Preiserhöhungen von Lohnsteigerungen begleitet werden. Die
EZB weist zu Recht darauf hin, dass sich die Lohnentwicklung, insbesondere auch die der Tariflöhne, über
die vergangenen Quartale verlangsamt hat. Darin spiegeln sich die Corona-Krise und ihre wirtschaftlichen
Risiken. Ob das allerdings auch für die Zukunft gilt, ist angesichts der steigenden Preise unsicher. Es ist eine
pikante Geschichte, dass ausgerechnet die Arbeitnehmervertretung der EZB-Mitarbeiter in diesen Tagen mit
der Forderung nach einem Ausgleich für die hohe Inflation in Deutschland an die Öffentlichkeit gegangen ist.
Es ist aber auch eine Warnung, dass die Gewerkschaften die merklichen Reallohneinbußen nicht einfach
schlucken werden. Vor allem dann nicht, wenn die Preisdynamik auch im nächsten Jahr überdurchschnittlich
hoch bleiben sollte.
Nicht hilfreich ist aus diesem Blickwinkel die von der Ampel ausgehandelte Anhebung des Mindestlohns in
Deutschland um 25 Prozent auf 12 Euro pro Stunde, vor allem, wenn diese Anhebung in einem Schritt
erfolgen sollte. Schätzungen besagen, dass die Regelung rund 2 Millionen Arbeitnehmer begünstigt. Hinzu
kommt, dass die Mindestlohnüberlegungen möglicherweise weitere Bewegung in die T arife der
angrenzenden niedrigen Lohngruppen bringen könnte.
Welche Risiken gehen von der massiven Ausweitung der Liquidität beispielsweise durch die Anleihekäufe der
EZB aus? Auf kurze Sicht ist die Gefahr vermutlich gering. Die Liquidität staut sich zurzeit in den Bilanzen der
Banken als (meist ungeliebte) Guthaben der Banken bei der Notenbank. Die Banken als Gruppe können die
Gesamthöhe der Guthaben prinzipiell nicht beeinflussen. Zu einer Bedrohung der Preisstabilität könnte diese
Liquidität vor allem dann werden, wenn sich das Kreditwachstum nachhaltig beschleunigen und dadurch Geld
in den Händen des Publikums geschaffen würde, das der Finanzierung von neuen Ausgaben dient. Das
Geld- und Kreditwachstum allerdings hat sich nach den Schüben des letzten Jahres und trotz des niedrigen
Zinsniveaus merklich beruhigt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Inflationsraten im Euroraum im nächsten Jahr vermutlich
sinken werden, dass der Rückgang aber geringer ausfallen könnte als von der EZB erhofft. Das Risiko ist
derzeit hoch, dass die EZB ihre Inflationserwartungen nach oben anpassen muss. Auch wenn die
Lohnentwicklung aktuell moderat ist, dürften Inflationsraten merklich oberhalb des Inflationsziels der EZB die
Gewerkschaften auf den Plan rufen. Die Geldpolitik sollte vorsichtiger werden. Mit der Entscheidung, die
Anleihekäufe im Rahmen des Pandemie-Notfallprogramms (PEPP) auslaufen zu lassen, kann die EZB ein
erstes Signal setzen, dass sie die Inflationsrisiken ernst nimmt.
Den vollständigen "ODDO BHF CIO View: Inflation - EZB muss Prognose aufwärts revidieren"finden Sie hier als PDF.
1) Christine Lagarde, Commitment and Persistence: Monetary Policy in the economic recovery, 19. November 2021
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