Im aktuell schwierigen Marktumfeld müssten sich Versorger als eigentlich defensiver Sektor überdurchschnittlich gut entwickeln. Jedoch war auch der Stoxx 600-Versorgerindex seit Jahresanfang leicht rückläufig. Lediglich regulierte Versorger ohne größere Risiken haben sich gut entwickeln können. Es scheint, dass die Märkte zu sehr die Risiken im Blick haben und zu wenig auch die Chancen sehen.
26.04.2022 | 09:40 Uhr
Primäres politisches Ziel ist es, sich möglichst schnell unabhängig
von russischen Energien wie Öl, Gas oder Kohle zu machen, ohne die
Versorgungssicherheit zu gefährden. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien muss
dementsprechend beschleunigt werden. Deutschland beispielsweise hat im Rahmen
des sogenannten Osterpakets eine Reihe von Maßnahmen wie mehr neue Flächen für
Photovoltaik und Wind sowie die Verschlankung von Planungs- und
Genehmigungsverfahren beschlossen. Bis 2030 sollen mindestens 80 Prozent des
deutschen Stromverbrauchs aus „Erneuerbaren“ bezogen werden. Von einem
beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien sollten neben
Windturbinenherstellern wie Vestas oder Siemens Gamesa Anbieter von
Erneuerbaren Energien wie Acciona Energias, EdP Renovaveis, Neoen oder Orsted
profitieren. Orsted ist mit aktuell 12,7 GW Kapazität einer der größten
Betreiber und gut positioniert bei größeren Windparks auf See (Offshore). Bis
2030 planen die Dänen den Ausbau der Kapazitäten auf 50 GW.
Interessant ist auch RWE, die sich perspektivisch nach dem Ausstieg aus der
Kohle (eventuell ist eine Abspaltung in den nächsten Jahren möglich) und
Kernkraft zu einem reinen Anbieter von Erneuerbaren Energien entwickeln.
Dementsprechend sollte sich der Bewertungsabschlag zu anderen Anbietern von
Erneuerbaren Energien reduzieren. Zudem ist das Unternehmen mit einem
Netto-Cashbestand von 360 Mio. EUR per Ende 2021 finanziell gut aufgestellt.
Bereits für dieses Jahr prognostiziert RWE einen EBITDA-Beitrag von 70 Prozent
aus Erneuerbaren Energien. Aktuell besitzt RWE 9,5 GW Kapazitäten an
Erneuerbaren Energien und will diese wie Orsted bis 2030 auf 50 GW ausbauen.
Ferner profitiert RWE teilweise von gestiegenen Strompreisen. Generell sichern
die Essener nur 80 bis 90 Prozent ihrer Stromerzeugung ab. Zudem ist ein Teil
der Produktion aus „Erneuerbaren“ nicht langfristig kontrahiert und kann somit
zu hohen Preisen auf dem Spotmarkt verkauft werden. Im ersten Quartal lag der
Strompreis im Durchschnitt bei 185 EUR/MWh. Angesichts derartig hoher
Strompreise sowie einer eher konservativen Guidance für Supply & Trading
könnte der Ausblick im Laufe des Jahres nochmals nach oben angepasst werden.
Risiken könnten sich hingegen aus dem Kohleembargo ergeben. RWE bezieht langfristig
zwölf Mio. Tonnen bzw. bis März 2023 zwei Mio. Tonnen von einem russischen
Lieferanten. Unklar ist, ob hier Force Majeure greift. Sollte es sich
tatsächlich um „höhere Gewalt“ handeln (schließlich ist das Embargo ja
politisch gewollt, und RWE kann aufgrund dessen nicht die Kohle aus Russland
beziehen), müsste RWE seiner Lieferverpflichtung nicht nachkommen. Ansonsten
müsste man die Kohle anderweitig einkaufen, was sehr kostspielig sein dürfte
bei einem aktuellen Kohlepreis von knapp 300 USD pro Tonne.
Auch integrierte Versorger investieren massiv in den Ausbau Erneuerbarer
Energien. Die Bewertungen sind mit einem KGV für 2022 von acht für Engie, elf
für Enel bzw. 16 für Iberdrola vergleichsweise moderat und die
Dividendenrendite deutlich höher. Mit knapp 50 Prozent hat Iberdrola den
größten Gewinnanteil aus Erneuerbaren Energien. Allein im letzten Jahr nahmen
die Spanier 3,5 GW an neuen Kapazitäten in Betrieb. Weitere 7,8 GW an
Kapazitäten befinden sich im Bau, davon 2,6 GW im am stärksten wachsenden Offshore-Windsegment.
46 Prozent des EBITDAs kommen zudem aus dem regulierten Netzwerkgeschäft.
Angesichts höherer Materialkosten unter anderem für Stahl sowie steigender
Zinsen wird der Ausbau der Erneuerbaren Energien deutlich kostspieliger. Die
Unabhängigkeit vom günstigen russischen Gas hat somit einen hohen Preis und
sollte vor allem für energieintensive Branchen wie Chemie, Stahl oder Glas
langfristig Standortnachteile, besonders gegenüber den USA (günstiges Öl und
Gas aus Fracking) und China (zukünftiger Abnehmer des günstigen russischen
Gases), mit sich bringen. Damit Strom einigermaßen bezahlbar bleibt, wird man
daher nur schwer auf Atomkraft als Brückentechnologie verzichten können. Einige
Länder wie Belgien oder Finnland reagieren bereits mit Verlängerung der
Laufzeiten von Atomreaktoren. Damit verschafft man sich Zeit für die
Energiewende. Es bleibt abzuwarten, inwiefern Deutschland folgt. Noch scheint
hier kein Umdenken in Sicht bzw. zumindest tun sich die Regierungspartner in
der Ampelkoalition teilweise schwer mit einem solchen Umdenken. Jedenfalls wäre
die Laufzeitverlängerung der drei noch laufenden AKWs Isar I, Emsland und
Neckarwestheim sowohl ökonomisch (günstige Grundlasterzeugung) als auch
ökologisch (kein CO2 Ausstoß) sinnvoll. Angesichts der ohnehin schon knappen
Kapazitäten und der hohen Strom- und Gaskosten wäre ein Weiterbetrieb der
Reaktoren für einen beschränkten Zeitraum von z.B. fünf Jahren sinnvoll.
Ansonsten müsste man die Jahresproduktion von 30 bis 35 Terawattstunden TWh
(ca. fünf Prozent des deutschen Stromverbrauchs) in einem ohnehin schon sehr
angespannten Markt zusätzlich ersetzen, was weiter steigende Strompreise zur
Folge hätte. Theoretisch wäre auch eine Reaktivierung der bereits im letzten
Jahr stillgelegten Reaktoren möglich. Dies wäre jedoch aufwändig. Die Reaktoren
befinden sich bereits in der Abklingphase, so dass umfangreiche
Wartungsarbeiten nötig wären. Zudem wäre eine neue Betriebserlaubnis
erforderlich. Andererseits kämen zusätzlich Kapazitäten in den Markt. Diese
entsprächen weiteren fünf Prozent der gesamten Stromproduktion. Dies würde sich
entlastend auf den Strompreis auswirken.
Parallel zum Ausbau der Erneuerbaren Energien müssen auch die Stromnetze
ausgebaut werden. Neben großen Stromtrassen ist ein dezentraler Ausbau der
Distributionsnetze entscheidend. Hiervon sollte z.B. E.ON profitieren. Das
prognostizierte nachhaltige Gewinnwachstum von drei bis fünf Prozent p.a.
dürfte sich dementsprechend erhöhen. Allerdings bildet die relativ hohe
Verschuldung in Höhe des fünffachen EBITDA ein gewisses Hindernis. Die Aktie
ist aufgrund ihres Russlandrisikos deutlich unter Druck geraten. Die
Werthaltigkeit des im Pensionsfonds liegenden Anteils an Nordstream I ist zu
hinterfragen. Jedoch entspricht der Buchwert von 1,2 Mrd. EUR lediglich vier
Prozent der Marktkapitalisierung. E.ON selbst bezieht zwar nicht direkt Gas von
Gazprom, hat jedoch mit 380 TWh an Lieferverpflichtungen gegenüber Endkunden
wie privaten Haushalten oder großen Unternehmen in Europa das größte Exposure.
Da Deutschland mehr als 50 Prozent des Gasbedarfs aus Russland bezieht, ist es
wahrscheinlich, dass die E.ON-Lieferanten größtenteils ausfallen würden. Sollte
kein russisches Gas mehr fließen, wäre dies daher existenzgefährdend.
Allerdings ist der Regierung bewusst, dass ein Gasembargo unkalkulierbare
wirtschaftliche Folgen hätte und Deutschland in eine noch nie dagewesene
Rezession mit schweren Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt und der dauerhaften
Abwanderung ganzer, vor allem energieintensiver Industrien, zur Folge hätte.
Es bleibt die Gefahr, dass Gazprom selbst die Lieferungen einstellt. Dies ist
jedoch eher unwahrscheinlich, da Russland auf die Devisen angewiesen ist. Zudem
kann im Gegensatz zu Kohle oder Öl kein Gas ohne vorhandene Pipelines an andere
Abnehmer wie China oder Indien abgesetzt werden. Zwar ist man dabei, nach
Fertigstellung der „Power of Siberia 1“-Pipeline mit einer Transportkapazität
von ca. 61 Mrd. m³ nach China nun eine neue Pipeline „Power of Siberia II“ mit
einer zusätzlichen Kapazität von 50 Mrd. m³ zu bauen, jedoch ist der Bau
kostspielig und langwierig (die Bauzeit der ersten Gaspipeline betrug fünf
Jahre).
Falls doch kein Gas mehr aus Russland fließen würde, müsste man in Deutschland
zu einer Zwangsbewirtschaftung mit Rationierung des Gasbezugs für
Industrieunternehmen und private Haushalte übergehen. In diesem Fall dürfte
Force Majeure gelten, was dazu führen würde, dass Unternehmen wie E.ON von
ihren Lieferverpflichtungen entbunden wären. Auch wäre es gar nicht möglich,
sich mit derartig großen Gasvolumina einzudecken, um das russische Gas zu
ersetzen.
Ebenfalls übertrieben scheint der Kursrutsch bei Fortum und Uniper. Beide
Unternehmen weisen zwar europaweit das größte Russlandrisiko auf. Im Gegensatz
zu anderen europäischen Versorgern besitzt man Mehrheitsbeteiligungen an
russischen Tochterunternehmen, die rund ein Viertel des Gewinns ausmachen.
Ferner ist die Beteiligung von Uniper an Nordstream II im Wert von einer Mrd.
EUR mit dem Stopp komplett abzuschreiben. Zudem bezieht Uniper rund 160 Mrd. m³
an Gas von Gazprom, was im schlimmsten Fall existenzgefährdend wäre. Hier gilt aber
das gleiche wie bei E.ON. Zum einem ist es sehr unwahrscheinlich, dass es zu
einem Gasembargo oder Lieferstopp seitens Russlands kommt. Zum anderen dürfte
in diesem Fall Force Majeure gelten. Der Kursrückgang seit Jahresanfang von
fast 50 Prozent bei beiden Versorgern erscheint daher übertrieben. Zumal beide
mit ihrem hohen Anteil von Stromerzeugung aus Wasser und Kernkraft in
Skandinavien von dauerhaft hohen Strompreisen profitieren dürften. Bei Uniper
sollte zudem ein Aufkauf der Minderheiten seitens Fortum, die bereits mehr als
75 Prozent der Anteile besitzen, eine echte Option sein. Als Mehrheitsaktionär
haftet man ohnehin für mögliche Risiken eines russischen Gaslieferstopps,
könnte jedoch das aktuell günstige Niveau nutzen, um endgültig die volle Kontrolle
zu gewinnen und einen Beherrschungsvertrag abzuschließen.
Festzuhalten bleibt, dass der Markt sich aktuell noch vornehmend auf die
Risiken fokussiert. Vor allem ein Gasembargo hätte schwere Folgen für einen Großteil
der Versorger, allen voran E.ON und Uniper. Ein Lieferstopp ist jedoch wie
beschrieben aufgrund der Folgen unwahrscheinlich und müsste im Falle des Falles
als Force Majeure gelten. Aktuell beschränkt man sich auf ein Kohleembargo.
Dabei handelt es sich mehr um Symbolpolitik, die Russland nicht wirklich
schadet. Im Gegenteil: Kohle ist gut lagerfähig, und Russland kann die nicht
abgenommene Kohle zum aktuellen Marktpreis von 300 USD/Tonne zum Beispiel an
China oder Indien verschiffen, während der Kontraktpreis mit den deutschen
Abnehmern bei geschätzt 40 bis 50 USD/Tonne liegt. Denkbar wäre als
nächster Schritt das häufig geforderte Ölembargo. Hauptprofiteure wären hier
Ölkonzerne wie Total oder Royal Dutch sowie große US-Konzerne wie Chevron, Exxon,
Occidential Petroleum oder Conoco Philipps. Das russische Öl würde trotz allem
in China oder Indien Abnehmer finden. Immerhin hätte ein Ölembargo für
Versorger keinerlei negative Auswirkungen.
Neben Embargos werden staatliche Interventionen gefürchtet. Größere Eingriffe
wie eine Deckelung des Strom- oder Gaspreises scheinen jedoch nicht zu kommen.
Man beschränkt sich auf kleinere nationale Eingriffe wie in Italien oder
Spanien ohne größere Auswirkung für dort ansässige Versorger wie Enel oder
Iberdrola. Im Fokus steht eher eine staatliche Unterstützung
einkommensschwacher Haushalte, die besonders betroffen sind vom Anstieg der
Strom- und Gaspreise.
So dürften sich Einstiegsgelegenheiten bieten bei Anbietern von Erneuerbaren
Energien, die von einem beschleunigten Ausbau profitieren sowie bei
Unternehmen, die aufgrund ihres Russlandrisikos zu stark unter Druck geraten
sind. Die politisch gewollte zunehmende Unabhängigkeit von Russlands günstigen
fossilen Energieträgern wird zu einem dauerhaft hohen Strompreis führen, wovon
wiederum Versorger mit von fossilen Brennstoffen unabhängiger Stromerzeugung
wie Wasser- oder Kernkraft profitieren sollten.
Über die DJE-Gruppe
DJE ist seit über 45 Jahren als unabhängige Vermögensverwaltung am Kapitalmarkt
aktiv. Das Unternehmen aus Pullach bei München verwaltet mit rund 170
Mitarbeitern in der DJE-Gruppe über 17,4 Milliarden Euro (Stand: 31.12.2021) in
den Bereichen individuelle Vermögensverwaltung, institutionelles Asset
Management sowie Publikumsfonds. Zudem bietet die DJE Kapital AG seit 2017 mit
Solidvest eine einzeltitelbasierte Online-Vermögensverwaltung an – als digitale
Lösung im Rahmen aktiv gemanagter Depots. Das Online-Konzept basiert auf den
breiten Kompetenzen in Vermögensverwaltung und Anlagestrategie der DJE Kapital
AG – und ermöglicht ein diversifiziertes Portfolio nach individuellem
Rendite-Risiko-Profil mit persönlichen Themenschwerpunkten im Aktienbereich.
Vorstandsvorsitzender ist Dr. Jens Ehrhardt, sein Stellvertreter Dr. Jan
Ehrhardt. Kern des Anlageprozesses und aller Investmententscheidungen ist die
FMM-Methode (fundamental, monetär, markttechnisch), welche auf dem hauseigenen,
unabhängigen Research basiert. Der Anspruch der DJE Kapital AG ist, ihren
Kunden weitsichtige Kapitalmarktexpertise in allen Marktphasen zu bieten.
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