In den letzten drei Jahren wurde die Weltwirtschaft drei Mal tief erschüttert. Der kurzen, aber heftigen durch den Corona-Lockdown bedingten Rezession folgte zunächst quasi automatisch die ungewöhnliche und kräftige Reflation, die von den politischen Risiken vor den Toren Europas abgelöst wurde – dem „Putin-Schock“.
05.05.2022 | 06:25 Uhr
Diese exogenen Gesundheits- und politischen Krisen hatten erhebliche Auswirkungen auf Rohstoffe, aber auch auf den Handel. Lieferengpässe bremsen die Wachstumsmotoren und stören Trends aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Globalisierung, politische Ordnung und Finanzsystem. Hinzu kommt, dass die Energiewende dringend vorangetrieben werden muss.
Nach dem Handelskrieg zwischen China und den USA, der im März 2018 begann, sowie nach der COVID-19-Krise ab 2020 belastet jetzt der Ukrainekonflikt die Produktion und Lieferketten. Das gilt vor allem für die Automobilindustrie, die noch immer nicht wieder so viel produziert wie vor der Krise. Da schon ein fehlendes Teil die Produktion stoppen kann, litt die Branche bereits während der Pandemie unter der Halbleiterknappheit. Nun fehlen allmählich Kabelstränge und Palladium, die man für die Herstellung von Katalysatoren braucht. Sie kommen zu 40 Prozent aus Russland. Neben den Lieferengpässen belasten die stark steigenden Preise einiger Rohmaterialien die Rentabilität der Autohersteller. Außerhalb Europas gerät die Produktion elektronischer Chips durch den Krieg in der Uk-raine in Bedrängnis, die 40 Prozent des weltweit zur Herstellung integrierter Schaltkreise benötigten Neons liefert. Im Automobilsektor treiben die stark steigenden Nickelpreise die Herstellungskosten von Batterien in die Höhe.
Seit den 1970er-Jahren lagern viele Unternehmen ihre Produktion ganz oder teilweise in die Schwellenländer aus. Diese Strategie muss jetzt überdacht werden. Mit den steigen-den Löhnen in den Schwellenländern, den höheren Frachtkosten und der Energiewende, die eine Verkürzung der Produktionsketten erfordert, fallen viele Argumente für eine Auslagerung dorthin weg. Notwendig wird die Rückführung in westliche Länder angesichts der politischen Spannungen, die mit der Einführung von Zöllen durch Donald Trump begannen. Hinzu kommen die Sicherung der Produktionsketten, die Verschiebung von „Just-in-time“ zu „Just-in-case“ sowie das Bestreben der Unternehmen, ihr Markenimage zu schützen und ihre Reputationsrisiken zu senken.
Derzeit entstehen Pläne, die Produktion zurückzuführen. Das wird die Inflation weiter in die Höhe treiben, weil es das Ende der Niedriglohnarbeit und günstiger Rohstoffe bedeutet.
Auswirkung 1.1 Das Ende des Konjunkturzyklus belastet die Rentabilität der Unternehmen
Knappe Teile und steigende Inputkosten sind ein Risiko für die Gewinnmargen der Unternehmen. Ob sie die Kosten weiterreichen können, hängt davon ab, wie stabil die Nachfrage bleibt. Aber bereits jetzt belasten steigende Benzinpreise und hohe Energiekosten die Portemonnaies der privaten Haushalte. Die staatlichen Hilfen, die einen Teil dieser Belastungen ausgleichen sollen, reichen aus unserer Sicht entweder nicht aus oder sind zu kurzlebig. Wenn sich der Konflikt länger hinzieht, werden die Haushalte den Konsum weniger kritischer Produkte einschränken müssen. Ein Einbruch des Verbrauchervertrauens, begleitet von einem starken Nachfragerückgang, ist nicht auszuschließen. Nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine sind die Verbrauchervertrauensindizes auf beiden Seiten des Atlantiks gefallen.
An den Märkten schlugen vor allem die fallenden Aktienkurse zu Buche. Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse (KGVs) sind noch vor den Gewinnerwartungen erheblich zurückgegangen. Abhängig von der Dauer des Konflikts könnte das Wachstum der Gewinne je Aktie von Euroraum-Unternehmen nach den Bloomberg-Konsensschätzungen um zehn Prozentpunkte zurückgehen. Das entspräche fünf Prozent Umsatzrückgang und um ein Prozent reduzierten Gewinnmargen.
Auswirkung 1.2 Erholung der Investitionen
Von der Rückverlagerung sind wichtige Sektoren betroffen wie die Automobilindustrie, das Gesundheitswesen, Halbleiterhersteller und Technologieunter-nehmen. Große internationale Unternehmen werden hierfür vermutlich hohe Investitionen tätigen müssen, um einerseits ihre Produktion wieder nach Hause zu holen und zu automatisieren, und um andererseits die notwendigen Mitarbeiter zu finden. Nach Angaben der Association for Advancing Automation (A3) ist die Zahl der in den USA verkauften Roboter von 2020 bis 2021 um 28 Prozent gestiegen. Für diesen Bereich wurden mit zwei Milliarden US-Dollar 14 Prozent mehr ausgegeben als im bisherigen Rekordjahr 2017. Diese Investitionen werden zum strukturellen Wachstum der westlichen Länder beitragen.
Auch in puncto Energiewende investieren europäische Industriekonzerne wie Siemens und Thales enorme Summen. Sie beteiligen sich am Wettlauf für die Erzeugung sauberer Energie durch Kernfusion (keine Erzeugung dauerhafter radioaktiver Abfälle und keine Gefahr einer Reaktorschmelze), eine aufstrebende Industrie, die vor allem in den USA entstanden ist.
Das Misstrauen in staatliche Institutionen war schon nach der Amtszeit von Donald Trump hoch. Die USA sollten aus der WHO austreten und sie hatten den Einfluss der WTO nach dem Handelskrieg mit China verkleinert. Jetzt wird Russland von den internationalen Organisationen ausgegrenzt. Isaac Newton hat gesagt: „Ich kann die Bewegungen der Himmelskörper berechnen, aber nicht die Verrücktheit der Menschen.“ Wir bewegen uns unweigerlich auf eine neue Ordnung zu.
Eine der Sanktionen ist das Einfrieren der ausländischen Vermögen und Bankguthaben der russischen Zentral-bank. Dies ist keine Kleinigkeit, auch wenn Russland durch die Forderung, seine Exporte in Rubel zu bezahlen versucht, sich weniger abhängig von US-Dollar und Euro zu machen. Das Ziel dieser Sanktion war, Russland zu isolieren, aber möglicherweise verringert sie auch den Einflussbereich der Länder, die sie beschlossen haben, wie vor allem den der USA und von Europa. Es ist sehr gut möglich, dass Zentralbanken anderer Schwellenländer ihre Vermögen jetzt in mehreren und/oder anderen Ländern verwahren werden. Es besteht die Gefahr, dass „starke“ Währungen im internationalen Handel zugunsten des chinesischen Renminbi an Bedeutung verlieren. Saudi-Arabien denkt bereits darüber nach, China zu erlauben, Öl- und Gaslieferungen in Renminbi zu bezahlen.
Auswirkung 2.1 Das Ende der deutschen Ostpolitik und die neue Führungsrolle Frankreichs in Europa
Der Krieg in der Ukraine hat die Einstellung der Deutschen und ihrer Politiker gegenüber Russland verändert. Die Merkel-Ära wird jetzt kritisch gesehen. Nach den jüngsten Umfragen ist das Misstrauen hoch. Nur noch sechs Prozent der Befragten halten Russland für vertrauenswürdig. Olaf Scholz nannte es „Zeitenwende“. Die Einstellung des Zertifizierungsverfahrens von Nord Stream 2 ist möglicherweise ein Zeichen dafür, dass die EU wieder politische Stärke gewinnen muss, damit sie sich ihre Partner und Mitglieder aussuchen kann (Albanien, Nord-Mazedonien etc.). Nicht nur könnte die von Willy Brandt eingeführte Ostpolitik und seine nach Osten gerichtete Industriepolitik bald zu Ende gehen. Auch eine Intensivierung der deutsch-französischen Zusammenarbeit sowie ein Ausbau der Führungsposition des Euroraums sind möglich.
Auswirkung 2.2 Staatliche Finanzhilfen statt geldpolitischer Unterstützung
Natürlich wird der Euroraum sehr wahrscheinlich einige Quartale lang unter einer rückläufigen Konjunktur und Lieferengpässen leiden, aber am Ende wird er gestärkt aus der Krise hervorgehen. Das war schon immer so (Subprime-Krise, COVID-19 und jetzt die Ukrainekrise, die zu einer Verringerung der Energieabhängigkeit und dem Aufbau einer europäischen Verteidigung führen wird).
Auswirkung 2.3 Das Scheitern des flexiblen Inflationsziels (F.A.I.T.) der wichtigen Zentralbanken
Die Zentralbanken der OECD-Länder erleben eine dreifache Krisenökonomie: Den Zusammenbruch der Produktion in 2020, die Energiewende, durch die Werte zerstört und ersetzt werden sowie die Notwendigkeit höherer Infrastrukturausgaben, die in Zusammenhang mit der Energieunabhängigkeit nach dem Ukrainekonflikt stehen (Bau von Flüssiggasterminals etc.).
Deshalb haben uns die Inflationszahlen der letzten sechs Monate ein für alle Mal weggeführt von dem im September 2020 von der Fed definierten flexiblen durchschnittlichen Inflationsziel (F.A.I.T.). Seitdem ist die Teuerungsrate um monatlich 0,7 Prozent gestiegen. Im langfristigen Durchschnitt betrug ihr Anstieg 0,2 Prozent. Nach 2,6 Prozent im März 2021 lag die Inflation im März 2022 bei 8,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Bis Mitte des Jahres sind durchaus zweistellige Werte denkbar. Üblicherweise reagiert die Fed nicht auf Spannungen im Zusammenhang mit Energie- oder Liefer-engpässen, aber diesmal haben wir es mit einem Doppelschock zu tun: Knappes Angebot und übermäßige Nachfrage im Zusammenhang mit dem Wiederanlaufen der Wirtschaft. Betrachten wir einmal ausschließlich die Energiekomponente (7 Prozent des Welt-BIP). Auf sie entfallen fast 30 Prozent der Preisanstiege und ein Ende dieses Trends ist nicht in Sicht. Isabel Schnabel, ein Mit-glied des EZB-Rats, betonte im Januar 2022, dass man dringend einen neuen Ansatz zur Bekämpfung der Aus-wirkungen der Energiewende auf die Inflation brauche.
Vor dem Hintergrund der angespannten politischen Lage im Vorfeld der Halbzeitwahlen in den USA wird die Fed versuchen, die Anzeichen für eine Entgleisung der Inflationserwartungen mithilfe inflationsgeschützter Staatsanleihen (TIPS) zu bekämpfen, die sich zunehmend ähnlich wie Kurzläufer entwickeln. Zweifellos liegt der Fed Put1 zurzeit in weiter Ferne, zumal Jerome Powell sagte, die Zentralbank würde nur reagieren, wenn sich die Finanzbedingungen für längere Zeit verschlechtern, und dass sie bei ihren Entscheidungen zahlreiche Indikatoren berücksichtigen würden.
Der Krieg in der Ukraine hat deutlich gezeigt, wie abhängig Europa von russischer Energie ist. Diese Abhängigkeit ist seit 2014 gestiegen – trotz der Sanktionen in den Jahren 2014 bis 2019. Nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima hat Deutschland den allmählichen Ausstieg aus der Kernkraft beschlossen und ist dadurch noch abhängiger von fossilen Brennstoffen (Gas, Öl und Kohle) geworden, die vor allem aus Russland kommen. Durch die Aussetzung der Gaspipeline Nord Stream 2 und die Reduzierung der russischen Gasexporte nach Europa um 30 Prozent, noch vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, könnte Gas im nächsten Winter knapp werden.
Ein Gasmangel würde eine Rezession in Europa noch wahrscheinlicher machen als ein Anstieg der Energiekosten.
Die Energiewende muss schnell vollzogen werden, aber ihre Umsetzung wird Jahre dauern und mit zusätzlichen Kosten verbunden sein. Bis dahin wird die Anpassung nur über einen geringeren Energieverbrauch und höhere Preise erfolgen.
Auswirkung 3.1 Staatliche Interventionen im Energiesektor und bei weltpolitischen Themen
Die Energiewende erfordert massive Investitionen (Erzeugung und Speicherung erneuerbarer Energie, Dekarbonisierung der Industrie, Wärmedämmung von Gebäuden), die zum Teil wenig rentabel sind. Das er-zeugt enormen Druck auf die Politik, der dadurch noch verstärkt wird, dass Werte zerstört werden und Arbeitsplätze verloren gehen, vor allem im Automobilsektor. Deshalb sind staatliche Eingriffe so wichtig. Durch sie ist der europäische Aufbauplan NextGenerationEU (mit Anleihen und Beiträgen von über 750 Milliarden Euro) entstanden, der sicherstellen soll, dass die Investitionen zielgerichtet sind.
All diese Auswirkungen der letzten beiden Jahre laufen auf eine Kriegsökonomie hinaus: Hohe Staatsdefizite, hohe Inflation bei gleichzeitiger Verknappung vieler Rohstoffe, ultraexpansive Geldpolitik zur Finanzierung der Schulden und finanzieller Druck durch negative Realzinsen, um einen Anstieg der Verschuldungsquoten zu vermeiden.
Um diese Auswirkungen einzuordnen, haben wir analysiert, was staatliche Interventionen und eine neue Politik zur Verringerung der Abhängigkeit von Dritten bedeuten könnten. Wir haben die Rentabilität der Rückverlagerungen großer Konzerne untersucht sowie die Rentabilität börsennotierter Unternehmen vor dem Hintergrund immer höherer Produktions- und Kapitalkosten geprüft. Natürlich hängen die Ergebnisse von der Dauer und dem Umfang des Russland-Ukraine-Krieges ab, aber eines steht fest: Die neue politische, geldpolitische und finanzielle Ordnung wird Spuren hinterlassen und sich auch auf die Investmentstrategien auswirken.
1. Der Fed Put ist die Inflationsrate, bei der die US Federal Reserve Zinserhöhungen aussetzen und ihr Quantitative Easing wieder aufnehmen würde, um den Märkten Auftrieb zu geben.
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Redaktionsschluss: 20. April 2022. Herausgegeben von Edmond de Rothschild Asset Management (France).
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