Folker Hellmeyer » Was die Corona-Pandemie für die deutsche Volkswirtschaft bedeutet, weshalb die Börsen so stark steigen und ob sich Gold lohnt. Ein Interview mit dem ehemaligen Chefanalyst der Bremer Landesbank.
12.06.2020 | 11:45 Uhr von «Christian Bayer»
FundResearch: Momentan blickt alles auf die Corona-Krise. Die Unsicherheit ist groß und die wirtschaftlichen Folgen schwer absehbar. Wie sollen sich Anleger in dieser Situation verhalten?
Hellmeyer: Die erste Maßgabe in solchen Situationen ist immer: Kühlen Kopf
bewahren und die Dinge rational betrachten. Fakt ist, dass wir den schwersten
Konjunktureinbruch haben, seit es Industrienationen gibt. Gleichzeitig ist der
Zustand allerdings auch eine Anomalie, weil der Shutdown weltweit durch das
Handeln der Regierungen verursacht wurde. Folglich ist es Aufgabe der Politik,
die tragenden Strukturen der Wirtschaft am Leben zu erhalten und den Aufschwung
zu ermöglichen. Diese Stabilisierungsmaßnahmen durch die Politik haben wir auch
gesehen. Die Corona-Pandemie stellt ein temporäres Phänomen dar. Wenn wir sie
mit der Hongkong-Grippe von 1968-1970 vergleichen, kann man davon ausgehen,
dass wir in maximal zwei Jahren den nötigen Durchseuchungsgrad erreicht haben.
FundResearch: Sehen Sie für die
Konjunktur erste Hoffnungssignale?
Hellmeyer: Ja, die gibt es. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit haben wir den
Tiefpunkt der negativen konjunkturellen Anpassung im April gesehen. Ausgehend
von Asien, aber mittlerweile auch in Europa, sehen wir eine Wiederbelebung der
wirtschaftlichen Tätigkeit von einem niedrigen Niveau. Die Wahrscheinlichkeit,
dass wir bis Ende des Jahres an den unteren Bereich des durchschnittlichen
globalen Wachstums in Höhe von 2,8-3 Prozent kommen, ist ausgesprochen hoch. Im
nächsten Jahr erwarten uns zum Beispiel Aufholprozesse im Produktionssektor aus
2020. Hinzu kommt eine Neujustierung der Globalisierung. Produktionsstätten werden
wieder in den Westen verlagert. Ein mittel- bis langfristig entscheidender
Wachstumstreiber sind die Konjunkturprogramme, die weltweit aufgelegt werden.
FundResearch: Und was bedeutet das für
den Anleger?
Hellmeyer: Der Investor steht vor der Entscheidung, ob er die Schockstarre
im April oder das Gesamtbild, das auch die kommende Wachstumsdynamik einbezieht,
als Grundlage seiner Anlageentscheidung nimmt. Wir haben die aggressivsten
Zinssenkungen im kürzesten Zeitraum in der Geschichte der Finanzmärkte gesehen.
Der Prozess ist insbesondere mit Blick auf UK und die USA noch nicht
abgeschlossen. Bei der EZB sehe ich, mit Ausnahme von quantitativen Maßnahmen, kaum
Spielraum auf der Zinsseite. Wir haben bei leicht weiter fallender Tendenz das
niedrigste Zinsniveau, das je etabliert wurde. Daraus ergibt sich ein Anlagenotstand,
wie wir ihn noch nie in der Geschichte gesehen haben.
FundResarch: Was bedeutet das für Aktien
und Anleihen?
Hellmeyer: Die westlichen Anleihemärkte bieten größtenteils keine laufenden
Erträge mehr. Selbst der Kapitalerhalt nach Inflation ist nicht mehr möglich. Interessant
sind Anleihen aus Schwellenländern mit starken Strukturdaten. Aus meiner Sicht
gibt es dadurch eine ganz klare Fokussierung auf die Aktienmärkte. Der deutliche
Anstieg des DAX von den Tiefstständen ist vor diesem Hintergrund nicht
irrational. Er ist vielmehr rationaler Ausdruck dafür, dass Märkte nicht nur
die aktuelle Situation, sondern auch die zukünftige Entwicklung bewerten.
FundResearch: Kommen Investoren mit Gold
und Betongold, sprich Immobilien, gut durch die Krise?
Hellmeyer: Ich habe auch schon vor der Corona-Pandemie die Auffassung
vertreten, dass Investments in reale Werte wie Edelmetalle, Aktien und
Immobilien die tragenden Säulen der Asset Allocation sind. Für Aktien bin ich
bullisch, allerdings gilt es hier stark auf die Branchen zu achten. Bei den
Immobilien in Deutschland bin ich sehr zuversichtlich, dass die
Bewertungsniveaus mindestens gehalten werden. Die russische und die chinesische
Zentralbank bauen seit Jahren Edelmetallreserven auf, auch um sich unabhängiger
vom US-Dollar zu machen. Das ist für mich mit ein Grund, dass auch private
Haushalte Gold mindestens in Höhe von fünf Prozent des frei verfügbaren
Vermögens physisch vorhalten sollten.
FundResearch: Firmen, die vor der Corona-Krise
schon fast pleite waren, werden als Zombiefirmen weiter künstlich am Leben
gehalten, weil die Notenbanken die Märkte mit Liquidität überschwemmen. Ist das
Vorgehen alternativlos?
Hellmeyer: In der jetzigen Situation wäre die Alternative gewesen, dass gar
nichts gemacht wird. So war es zur Zeit der Hongkong-Grippe. Da der Staat in
der jetzigen Situation die Lockdown-Maßnahmen beschlossen hat, sind die
flankierenden Maßnahmen der Zentralbanken auch schlüssig. Natürlich gibt es
auch Zombie-Unternehmen, obwohl ich den Begriff nicht sonderlich mag. In dem
Zusammenhang müssen wir uns die Frage beantworten, ob sie ein temporäres
Phänomen oder Teil einer neuen Struktur des Null- und Negativzinsumfelds sind. Aus
meiner Sicht sind sie kein temporäres Phänomen, daher muss man die Unternehmen
unter dem Blickwinkel dieser neuen Struktur sehen.
FundResarch: Wenn es nach Merkel und
Macron geht, soll ein 500 Milliarden-Euro-Paket in der EU für die Folgen der
Corona-Krise geschnürt werden. Die EU selbst schlägt 750 Milliarden Euro aus
Krediten und Zuschüssen vor. Ist damit der Weg in die Transfer-Union
vorgezeichnet?
Hellmeyer: Für mich ist es ein kleiner Schritt, der zur politischen Integration
Europas führen sollte. Solidarität ist eine Zweibahnstraße. Wir müssen uns
vergegenwärtigen, dass die Welt in Blöcke zerfällt, die nicht europafreundlich
sind. Die Struktur Europas, die wir heute haben, ist nicht dafür geschaffen,
die deutschen und europäischen Interessen zu vertreten. Für mich ist das Ziel
die Vereinigten Staaten von Europa, die auch eine Vergemeinschaftung der
Schulden beinhaltet. Deutschland profitiert wie kein anderes Land in der EU von
der Entwicklung. Wir haben einen zu niedrigen Euro. Daraus folgt, dass wir mehr
exportieren, es mehr Beschäftigung und dadurch ein höheres Steueraufkommen gibt.
Seit der Finanz-Krise profitiert Deutschland von Windfall-Profits in Höhe von jährlich
mehr als 150 Milliarden Euro. Wenn wir davon Teile abgeben, ist das eine weise
Entscheidung. Denn die Europäische Union ist der größte Abnehmer deutscher Waren
und das Herzstück der Exportwirtschaft.
FundResearch: Manche Experten sehen nach
der Transfer-Union das Ende der EU, weil den wirtschaftlich starken Staaten
irgendwann auch die finanziellen Mittel ausgehen. Ist das zu pessimistisch
gedacht?
Hellmeyer: Ich bin da sehr viel zuversichtlicher. Wir hatten im Januar die
höchste Beschäftigung, die es jemals in der Eurozone gegeben hat. Das zeigt,
dass Europa auf einem guten Weg ist. Gleichwohl besteht das Risiko. Wir leben
in einer Demokratie und Politik ist nicht immer rational. Ein
Auseinanderbrechen der EU können wir nicht vollständig ausschließen, aber ich
gehe nicht davon aus. Denn der Nutzen aus der jetzigen Situation ist für alle
Teilnehmer größer als die möglichen Chancen und Risiken, die sich aus einer
Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit ergeben.
FundReseach: Steht der Euro vor einem
Vertrauensverlust und wird dadurch zur Weichwährung gegenüber dem US-Dollar?
Hellmeyer: Wir haben in akuten Krisenphasen wie aktuell eine Hinwendung zum
US-Dollar als Welt-Leitwährung. Wenn wir uns aber mit den Kerndaten
beschäftigen, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Der IWF prognostiziert für das
laufende Jahr eine Neuverschuldung in den USA in Höhe von 15 Prozent der
Wirtschaftsleistung. Für die Eurozone liegt die Prognose bei 7,5 Prozent. Die
EU hat Außenhandelsüberschüsse, die USA weist dagegen starke Defizite auf. Mit
4,9 Prozent der Weltbevölkerung sind in der Eurozone 55 Prozent der Hidden
Champions beheimatet. Es fehlt allerdings die politische Union. Diese würde
auch der Währung einen positiven Schub geben. Perspektivisch sehe ich eine
Stärkung des Euro, weil sich vor allem Schwellenländer zunehmend vom US-Dollar
abkoppeln.
FundResearch: Vor dem Ausgang der Corona-Krise sah es so aus, als ob sich die
Situation zwischen China und den USA entspannt. Das scheint nun passé. China
zieht mit einem neuen Sicherheitsgesetz in Hongkong die Daumenschrauben an. Was
versteckt sich dahinter?
Hellmeyer: Die Aggression ging in der Vergangenheit von den USA aus, sei es,
dass die USA ihren Handel unabhängig von WTO-Regeln gestaltet oder chinesische
Firmen wie Huawei diskriminiert. Was Hongkong betrifft, sind die konkreten
Inhalte der Sicherheitsgesetze noch nicht bekannt. China nimmt Rechte hinsichtlich
der territorialen und politischen Integrität wahr, die auch die USA und Europa
für sich in Anspruch nehmen. Fakt ist, dass China eine autoritäre Regierungsform
hat, die wir in Europa nicht mögen. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen,
dass die staatliche Integrität Chinas durch die UN-Charta geschützt ist.
FundResearch: Sie bieten Anlegern mit dem Solvecon Global Opportunities-Fonds
auch ein Anlageprodukt. Wie würden Sie den Investmentansatz kurz beschreiben?
Hellmeyer: Der Ansatz ist global ausgerichtet und sehr aktienfreundlich. Mit rund
35 Prozent haben wir einen hohen Anteil an Schwellenländern. Wir sind jetzt
knapp zwei Jahre am Markt, die Aufwärtsbewegung nach den Tiefs im März konnten
wir sehr gut mitnehmen. Momentan sind wir nicht in Gold investiert, weil wir
bessere Chancen am Aktienmarkt sehen. Ansonsten sind wir mit fünf bis zehn Prozent
in dem Edelmetall investiert. Bonds sind nur mit einer russischen Staatsanleihe
mit fünf Prozent vertreten. Künftig werden zur Reduzierung der Volatilität zusätzliche
Stabilisatoren eingeführt.
FundResearch: L, V, U oder W – Aktuell werden unterschiedliche Szenarien der
wirtschaftlichen Erholung diskutiert. Was ist aus Ihrer Sicht wahrscheinlich?
Hellmeyer: Für mich gibt es eine gute Blaupause, wenn man nach Asien blickt.
Wir waren vor drei Wochen in China schon wieder bei ca. 86 Prozent der
Kapazitätsauslastung. Ich erwarte eine ähnliche Entwicklung in Europa, wenn
auch nicht so dynamisch. In den USA wird der Lockdown nach Aussage Trumps nicht
wiederholt. Auch dort sehen wir ein Anspringen der Wirtschaft. Wenn wir bei den
Buchstaben bleiben, sehe ich eine Mischung zwischen V und U. Der administrativ
verhängte Lockdown wird sukzessive von einer Erholung abgelöst.
Vita:
Folker Hellmeyer begann seine Karriere 1984 als Devisenhändler bei der Deutschen Bank in Hamburg und London. 1995 wechselte er zur Helaba Bank in Frankfurt am Main. Von 2002 bis 2017 war er Chefanalyst bei der Bremer Landesbank. 2018 gründete er die Fondsboutique Solvecon Invest GmbH in Bremen, bei der er Chefanalyst und Gesellschafter ist.
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