Robeco: Die Briten werden wohl mit ihrer Brieftasche gegen den Brexit stimmen

Die Briten werden für einen Verbleib in der EU votieren, weil ein Austritt erhebliche wirtschaftliche Folgen hätte, meint Robecos Chefökonom, Léon Cornelissen.

25.05.2016 | 09:12 Uhr

In aller Kürze:

• Am 23. Juni entscheiden die Briten über ihren Verbleib in der EU

• Ein Brexit könnte zu einem BIP-Rückgang um 8% führen und eine Rezession auslösen

• Ein Verbleib in der EU hätte für Großbritannien doppelte Vorteile, wäre aber mit weniger Unabhängigkeit verbunden

• Meinungsumfragen und die Quoten der Buchmacher lassen einen Sieg des Pro-EU-Lagers erwarten

In einem White Paper, in dem er sich mit der Wahrscheinlichkeit eines genannten Brexit beschäftigt, prophezeit Cornelissen, dass Großbritanniens Wähler keine Lust haben werden, schwierige und weniger nützliche Handelsabkommen außerhalb des Gemeinsamen Marktes aushandeln zu müssen. Etwa 44% des britischen Exports gehen in die EU, und Millionen von Arbeitsplätzen sind davon abhängig. 

Cornelissen sieht vor allem wirtschaftliche Gründe für einen Verbleib in der EU mit ihren 28 Mitgliedstaaten, während die Argumente für einen Austritt eher emotional sind: Befürworter eines Austritts wollen die Unabhängigkeit zurückerlangen, die nach dem Empfinden vieler Briten durch die Macht der Bürokraten in Brüssel untergraben worden ist. In dem Referendum am 23. Juni entscheiden 46 Millionen Wahlberechtigte über den Austritt oder Verbleib in der EU und damit über das weitere Schicksal Großbritanniens. 

Meinungsumfragen gehen zurzeit von einem knappen Sieg des Pro-EU-Lagers aus: Aktuell sind 43% für einen Verbleib und 37% für einen Austritt. Die übrigen 20% sind noch unentschlossen. In der Vergangenheit haben sich unentschlossene Wähler oft für den Status quo entschieden. Die Quoten der Buchmacher, die sich häufig als zuverlässiger erwiesen haben als Meinungsumfragen, wenn echtes Geld auf dem Spiel steht, lassen mit 70% zu 30% einen wesentlich klareren Sieg des Pro-EU-Lagers erwarten. 

Entscheidend ist, wie hoch die Mehrheit ausfällt

„Es sieht sehr danach aus, dass es nicht zu einem Brexit kommen wird. Vieles hängt aber davon ab, wie hoch die Mehrheit ausfällt”, sagt Cornelissen. „Ein klarer Sieg des Pro-EU-Lagers mit großem Vorsprung vor den Brexit-Anhängern würde die Frage der EU-Mitgliedschaft für mindestens eine Generation ‚ad acta’ legen, sodass die Anleger und Märkte wieder zur Tagesordnung übergehen könnten. Die Ankündigung des Referendums hat erhebliche Volatilität ausgelöst. Das Pfund Sterling hat gegenüber dem Euro um 12% abgewertet, und die Spreads auf britische Anleihen sind gestiegen. Die Anleger würden zweifellos einen Seufzer der Erleichterung von sich geben, wenn die Buchmacher recht behalten.” 

„Allerdings käme bei einem knappen Sieg die Frage des Brexit wahrscheinlich in nicht allzu ferner Zukunft wieder auf den Tisch, und die damit verbundenen Risiken würden an den Finanzmärkten weiter für Instabilität sorgen. Wie problematisch knappe Mehrheiten sein können, hat 2014 das Referendum zur Unabhängigkeit Schottlands gezeigt, bei dem 55% für den Verbleib Schottlands in Großbritannien und 45% für einen Austritt votiert hatten. Dieser knappe Vorsprung hat das Thema wieder emporkommen lassen, und nur acht Monate später wurden nach dem erdrutschartigen Sieg der Schottischen Nationalpartei bei den Parlamentswahlen in 2015 Rufe nach einem erneuten Referendum laut. 

Angst spielt eine große Rolle

Cornelissen meint, dass beim Thema Brexit, der Großbritannien wirtschaftlich wie politisch unwiderruflich verändern würde, Angst definitiv eine große Rolle spielt: „Das Pro-EU-Lager warnt ständig davor, dass ein Austritt auf kurze und auf lange Sicht erhebliche wirtschaftliche Kosten verursachen und das BIP den pessimistischsten Schätzungen zufolge innerhalb von drei Jahren um 8% senken würde.” 

„Die OECD rechnet bis 2030 mit längerfristigen wirtschaftlichen Schäden in Höhe von 2,7% bis 7,7% des BIP (der Basisfall ist ein BIP-Rückgang um 5,1%). Eine für den Handel weniger offene Wirtschaft, die abnehmende Attraktivität Großbritanniens für Auslandsdirektinvestitionen, ein Investitionsrückgang im eigenen Land und weniger positive Impulse durch Zuwanderung wären die wichtigsten Faktoren, die nach Auffassung der OECD unweigerlich diese langfristigen Kosten verursachen würden. Außerhalb der EU müsste sich Großbritannien also auf eine massive Rezession einstellen.”

„Die Phase der Loslösung von der EU wird offiziell auf zwei Jahre veranschlagt. Diese Zeit würde aber vermutlich nicht reichen, um ein umfassendes Abkommen auszuhandeln. Über ein Abkommen zwischen der EU und Kanada wird bereits seit sieben Jahren verhandelt, und es ist immer noch nicht unter Dach und Fach. In jedem Fall würde die Phase erhöhter Unsicherheit der Stimmung unter den Anlegern immens schaden und an den Finanzmärkten auf breiter Basis für Volatilität sorgen.” 
Cornelissen meint, dass die Unsicherheit im Zusammenhang mit der Brexit-Diskussion der britischen Wirtschaft schon jetzt schadet: „Im Vorfeld des Referendums nehmen Unternehmen verständlicherweise eine abwartende Haltung ein und schieben Entscheidungen über Investitionen erst einmal auf. Infolgedessen schwächt sich das Wirtschaftswachstum in Großbritannien ab, das Pfund Sterling verliert an Wert, und das Leistungsbilanzdefizit wird noch größer.” 

Auch die politischen Folgen sind schwerwiegend

In der Politik käme es zu erheblichen Turbulenzen, mahnt Cornelissen. „Premierminister Cameron, der an der Spitze der Pro-EU-Kampagne steht, würde höchst wahrscheinlich zurücktreten, sodass seine Konservative Partei einen neuen Vorsitzenden wählen müsste. Und das wäre wahrscheinlich Boris Johnson, der die Kampagne pro EU-Austritt unterstützt.” 

„Außerdem will Schottland in der EU bleiben, sodass ein Brexit eine Trennung Schottlands vom Rest Großbritanniens nach sich ziehen könnte. Denn die Schotten könnten dann argumentieren, dass sie durch die Stimmen englischer Wähler gegen ihren Willen aus der EU geworfen wurden. Dasselbe gilt für Wales und Nordirland, wo die Bevölkerung mehrheitlich für einen Verbleib in der EU ist. Ein Zerfall Großbritanniens könnte also die Folge sein.”

Für den Fall, dass sich die Briten wie erwartet für einen EU-Verbleib entscheiden, sagt Cornelissen bessere Zeiten für Anleger voraus, die in britischen Vermögenswerten investiert sind. „Nach einem Votum zugunsten der EU käme es wegen der Erleichterung darüber wahrscheinlich zu einer Rally, die umso kräftiger ausfallen würde, wenn die Mehrheit groß genug ist, um die Frage der EU-Zugehörigkeit mindestens für eine Generation ‚ad acta’ zu legen. Zurückgestellte Investitionsvorhaben würden in Angriff genommen, was den Weg für ein stärkeres BIP-Wachstum in den folgenden Quartal ebnen würde.” 

„Gegenwärtig genießt Großbritannien mit seiner EU-Mitgliedschaft doppelte Vorteile: Es behält seine eigene Währung und Notenbank und hat gleichzeitig Zugang zum größten Binnenmarkt der Welt. Unser Basisfall ist, dass dies so bleiben wird.” 

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