Politiker deklarieren schon aus Eigeninteresse gerne die jeweils anstehende Wahl als Schicksalswahl. Auch bei dem diesmal am kommenden Sonntag stattfindenden Urnengang zum Europäischen Parlament ist es nicht anders. Politisch könnte es tatsächlich so sein, dass die etablierten Parteien der Mitte erneut einen Dämpfer bekommen und linke wie rechte Kräfte an den Rändern Zulauf bekommen.
24.05.2019 | 13:20 Uhr von «Christian Bayer»
Während Politiker gerne beim Buhlen um die Wählergunst im Vorfeld dramatisieren,
sehen Experten großer Fondsgesellschaften die Lage etwas nüchterner und entspannter.
"Allenfalls ein erdrutschartiger Sieg der Rechten würde vermutlich
ausreichen, um eine sichtbare Marktreaktion hervorzurufen", so eine der
Kernaussagen zur anstehenden Wahl von Martin Lück, Investmentstratege bei
BlackRock. Der zunächst als ausgemacht geltende Erfolg rechter Parteien könnte
aber diesmal ausbleiben, da die österreichische FPÖ nach Ibiza-Gate ihre Wunden
leckt und ihre Minister aus der Regierung abgezogen hat. Möglicherweise steht
das Land vorm Sturz von Kurz, dem jungen Ministerpräsidenten und
Hoffnungsträger der ÖVP. Ein Misstrauensvotum am kommenden Montag bringt
Klarheit.
Bleibt als Hoffnungsträger der Rechten noch der italienische
Innenminister Matteo „Il Capitano“ Salvini, der mit der Lega mit über 30 Prozent
die wohl stärkste Kraft in Italien bleiben wird. „Beklagenswert bleibt das
erwartete und seltsam teilnahmslos zur Kenntnis genommene Abschmelzen der
Mitteparteien. Da der neue Kommissionspräsident (bzw. die Präsidentin)
höchstwahrscheinlich von einer der traditionellen Mitteparteien kommen wird,
ergibt sich schon daraus eine Schwächung der demokratischen Legitimität der
künftigen Kommission“, beschreibt Lück die langfristigen Perspektiven. Falls es
also zu keinen unerwarteten Ergebnissen kommt, dürfte die Europa-Wahl aus Sicht
Lücks an den Finanzmärkten eher ein Non-Event sein.
Anlage-Experte Daniel Hartmann von Bantleon sieht es per saldo ähnlich. Aufgrund
des schlechten Abschneidens einiger Regierungsparteien in den europäischen
Ländern schließt Hartmann, Chef-Ökonom bei Bantleon, nationale politische Krisen
in Folge der Wahl nicht aus. Verluste der 5-Sterne-Bewegung in Italien und der
Parteien der großen Koalition in Deutschland, könnten zu neuen
Regierungskonstellationen führen. Die wirtschaftlichen Folgen dieser nationalen
Krisen hält er allerdings für überschaubar. Entscheidender als die Wahlen sieht
Hartmann für Europa die Entwicklung des Handelsstreits zwischen USA und China
sowie die zuletzt positiven Signale der chinesischen Wirtschaft, von denen auch
europäische Unternehmen profitieren würden.
Adrian Hilton, Fixed Income Portfoliomanager bei Columbia Threadneedle,
erwartet ebenfalls keine längerfristigen Auswirkungen des Urnengangs am
kommenden Sonntag, solange das politische Gleichgewicht stabil bleibt: „Aber auch wenn ein gutes
Abschneiden für die Euroskeptiker und Populisten für einige Aufregung auf dem
Markt sorgen könnte, sind die mittelfristigen Auswirkungen unserer Meinung nach
relativ gering, solange die Kontrolle zwischen der EVP- und der Progressiven
Allianz der Sozialdemokraten (S&D) geteilt bleibt.“ Aus Hiltons Sicht
könnte ein starkes Zulegen der Lega bei den Europawahlen zu Neuwahlen in
Italien führen und dort zu entsprechender Volatilität an den regionalen Finanzmärkten
führen.
Indirekte mögliche Auswirkungen auf die Wahl des
EU-Kommissions-Präsidenten sieht der Experte, wenn die EVP ihre Position als
stärkste Fraktion verliert und Manfred Weber nicht zum EU-Kommissionspräsidenten
gewählt wird. In diesem Fall würden aus Sicht Hiltons möglicherweise die
Chancen von Jens Weidmann als Nachfolger Draghis an der Spitze der EZB erhöhen.
Und dann hätte das Ergebnis der Europa-Wahl eben doch Auswirkungen, mit denen etliche
nicht gerechnet haben.
Weniger berechenbare
politische Entscheidungen im Europäischen Parlament wären laut Apolline Menut,
Volkswirtin für die Eurozone bei AXA IM, mögliche Folgen der Wahl: „Die
Fragmentierung könnte zeitlich begrenzte Bündnisse unterschiedlicher
politischer Kräfte ermöglichen und damit die Unsicherheit bei der
Entscheidungsfindung vergrößern“. Betroffen davon wären nach Auffassung Menuts
auch der Auswahlprozess bei der Besetzung von Spitzenpositionen in der EU,
allen voran die Nachfolge von Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsident,
aber eben auch die des Präsidenten der EZB.
Dabei geht es nicht nur darum, die geeignetste Persönlichkeit für die Aufgabe zu finden. „In diesem politischen Game of Thrones spielen auch die Nationalität, die politische Ausrichtung und das Geschlecht der Kandidaten eine wichtige Rolle“, so Menut. Falls es Manfred Weber gelingt, im bisher vorgesehenen Auswahlverfahren EU-Kommissionspräsident zu werden, sieht Menut gute Chancen für einen französischen oder Frankreich nahestehenden Kandidaten für die EZB. Andernfalls könnte der Nachfolger Draghis aus dem hohen Norden kommen. In Frage kämen in dem Fall Olli Rehn oder Erkki Liikanen, beide aus Finnland.
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