Metzler: Es war einmal der Zins

In den volkswirtschaftlichen Lehrbüchern steht geschrieben, dass sich das moderne Geldsystem aus dem Tauschhandel entwickelte.

24.03.2015 | 11:29 Uhr

Tatsächlich zeigen anthropologische Forschungsergebnisse, dass viele Völker vor der Entstehung der modernen Geldwirtschaft zum Teil schon ausgeklügelte Kreditsysteme verwendeten. Schon im 18. Jahrhundert vor Christus wurde beispielsweise das Verhältnis von Gläubigern und Schuldnern im Codex Hammurapi in Babylon geregelt und der maximale Zins für einen Kredit für Weizen auf 33,3 % und für Silber auf 20 % begrenzt. Aufgrund der langen Historie und Erfahrungen mit Krediten und Zinsen liegt die Vermutung nahe, dass es eine umfassende Zinstheorie mit zahlreichen empirischen Studien darüber gibt. Interessanterweise wurden die meisten der heute noch gängigen Zinstheorien vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelt. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass die Beschäftigung mit dem Zins lange Zeit verpönt war. So postulierte beispielsweise Aristoteles, dass die Vermehrung von Geld durch dessen bloße Verleihung naturwidrig sei, da er Geld von Natur aus für unfruchtbar hielt. Auch die christliche Kirche sah den Zins im Allgemeinen für lange Zeit als Wucher an und sprach ein Zinsverbot aus. In diesem Zusammengang sollte jedoch nicht vergessen werden, dass damals die Wirtschaft stagnierte und es kaum Bevölkerungswachstum gab, sodass der Zins mehr oder weniger ein Umverteilungsmechanismus war. 

Eugen von Böhm-Bawerk war einer der ersten Ökonomen der Moderne, der sich systematisch mit dem Zins auseinandersetzte, 1884 veröffentlichte er die Abhandlung „Kapital und Kapitalzins“. Darin leitete er in einer Auseinandersetzung mit Karl Marx her, dass der Zins kein Mittel zur Ausbeutung sei, sondern zur Finanzierung von Investitionen diene und sich aus den Zeitpräferenzen der Menschen ergebe. So haben seiner Ansicht nach Menschen starke Gegenwartspräferenzen, da einerseits die Zukunft unsicher ist und andererseits die meisten Menschen in Zukunft mit einem höheren Einkommen und damit mit einer größeren zukünftigen Verfügbarkeit von Gütern rechnen. Die privaten Haus-halte verlangen daher einen Zins für den heutigen Konsumverzicht. Darüber hinaus sorgt das investierte Kapital für eine höhere Produktivität in der Zukunft, die die Zahlung eines Zinses überhaupt erst ermöglicht. Ludwig von Mises als ein wichtiger Vertreter der österreichischen Schule griff die Einsichten von Böhm-Bawerk auf und zeigte, dass sich der Zins allein aus der Zeitpräferenz erklärt. Bei hoher Zeit- bzw. Gegenwartspräferenz werde aus dem laufenden Einkommen viel konsumiert und wenig gespart. Als eine Folge dessen steige der Zins. Bei abnehmender Zeitpräferenz erhöhe sich das Sparangebot, und der Zins sinke. Grundsätzlich klingt der beschriebene Zusammenhang intuitiv einleuchtend, ist jedoch in der empirischen Anwendung äußerst problematisch, da sich die Zeitpräferenz nicht direkt messen lässt. Auch ermöglicht es die Theorie der Zeitpräferenz nicht, den im aktuellen Wirtschaftsumfeld den optimalen Zins abzuleiten oder mit Hilfe eines Modells zu schätzen.   

Die Idee eines natürlichen Zinses, der sich in einem wirtschaftlichen Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung, niedriger Inflation und ohne staatliche Eingriffe ergeben würde, geht auf die Publikation „Interest and Prices“ des schwedischen Ökonomen Knut Wicksell von 1898 zurück. Auch Wicksell lehnte sich in seiner Theorie stark an der Arbeit von Böhm-Bawerk an. Wicksell definierte dabei den natürlichen Zins als den realen Zins, der Ersparnisse und Investitionen in Ein-klang bringt, sodass der reale Ertrag der Ersparnisse der (Grenz-)Produktivität des Kapitals entspricht. Damals gab es aufgrund des Goldstandards ein mehr oder weniger stabiles Preisniveau, sodass die damaligen Theoretiker kaum zwischen realen und nominalen Größen unterschieden. Die Grenzproduktivität des Kapitals beschreibt, wie stark der Output steigt, wenn eine zusätzliche Einheit Kapital investiert wird. In einer Wirtschaft mit einem geringen Kapitalstock hat eine zusätzliche Einheit Kapital einen sehr großen Effekt auf den Output, beispielsweise wenn ein Ochsengespann in der Landwirtschaft von einem Traktor ersetzt werden würde. Die höhere Produktivität des Traktors ermöglicht dabei einen Zins zu zahlen. Diese Idee wurde von der neoklassischen Theorie aufgenommen und im Rahmen der Wachstumstheorie von einem statischen in einen dynamischen Ansatz überführt. Maximieren die privaten Haushalte ihren Konsum, wie in einer freien Markwirtschaft als natürliches Verhalten definiert, werden sie im Gleichgewicht gerade soviel sparen, dass die reale Ertragsrate der Ersparnisse dem Potenzialwachstum entspricht. Das Potenzialwachstum setzt sich dabei zusammen aus dem Bevölkerungs- und dem Produktivitätswachstum. Die Sparer partizipieren daher mit einem konstanten Anteil nicht nur an dem Produktivitätszuwachs, sondern auch an der durch eine steigende Bevölkerung geschaffenen zusätzlichen Produktion. Für Unternehmen ist es in diesem Umfeld optimal, die Investitionen so weit zu erhöhen, dass die Grenzproduktivität des Kapitals dem Potenzialwachstum entspricht, da dadurch die Kapitalrendite maximiert wird. Im Endeffekt reagieren die privaten Haushalte mit ihren Spar- und die Unternehmen mit ihren Investitionsentscheidungen auf das als exogen angenommene Potenzialwachstum.

Eine Weitentwicklung der neoklassischen Wachstumstheorie sind die neu-keynesianischen DSGE-Modelle (DSGE = Dynamic Stochastic General Equilibrium), die den natürlichen Zins auf Basis zahlreicher Faktoren wie der Zeitpräferenz der privaten Haushalte, der Produktivität, der Staatsausgaben etc. herleiten. Die Modelle sind so komplex, dass eine Berechnung des natürlichen Zinses aufgrund der zahlreich notwendigen Annahmen äußerst problematisch erscheint und sehr schwierig zu interpretieren ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, sich bei der Analyse des natürlichen Zinses auf die neoklassische Wachstumstheorie zu beschränken. 

Die vollständige Analyse im pdf-Dokument

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