Von all den Lektionen, die man während der Pandemie gelernt hat – Hände gründlich waschen, überfüllte Aufzüge meiden, von zu Hause aus arbeiten kann produktiv sein – ist die vielleicht folgenreichste Lektion für Unternehmen im Nachhinein offensichtlich: Es war ein Fehler, sich auf einzelne Glieder der globalen Lieferkette zu verlassen.
17.02.2023 | 10:29 Uhr
Während der COVID-19-Krise brachen wichtige Teile der Lieferkette zusammen, was zu Engpässen in allen Bereichen führte, von medizinischem Bedarf und Ausrüstung bis hin zu Möbeln und Autoteilen. Hinzu kamen geopolitische Ereignisse. So machten die Spannungen zwischen den USA und China und die Invasion Russlands in die Ukraine deutlich, wie riskant es ist, sich bei kritischen Versorgungsgütern, darunter Energie, Lebensmittel und Computerchips, auf nur einen Lieferanten zu verlassen.
„Aufgrund der rasch voranschreitenden Globalisierung in den letzten Jahrzehnten haben Unternehmen ihre Fertigungsabläufe in die günstigsten und effizientesten Länder verlagert“, so Portfoliomanager Julian Abdey.
„Das war großartig für die Unternehmensgewinne und Verbraucherpreise“, fährt er fort. „In jüngster Zeit mussten wir jedoch erfahren, dass eine Unterbrechung der Lieferketten echte Probleme bereiten kann. Europa hat beispielsweise erkannt, dass es bei Erdgas zu stark von Russland abhängig ist. Das gleiche gilt meiner Meinung nach auch für andere Produkte wie Computerchips. Die Welt ist bei Halbleitern zu stark von Asien und insbesondere Taiwan abhängig.“
Reshoring statt Offshoring
Im Jahr 2023 ergreifen deshalb viele Unternehmen – in einigen Fällen angespornt durch massive staatliche Subventionen – umfassende Maßnahmen zur Diversifizierung ihrer Lieferketten, wobei sie den Schwerpunkt auf Zuverlässigkeit und Robustheit statt auf Kosten und Effizienz legen. Das bedeutet, dass die Fertigung teilweise wieder ins Inland oder in andere Länder verlagert wird („Reshoring“).
Diese Entwicklung hat die Frage aufgeworfen, ob die Welt auf eine Phase der De-Globalisierung zusteuert. Wenn man sich die Handelsaktivitäten der letzten Jahre ansieht, scheint jedoch eher eine maßvolle Anpassung der globalen Lieferketten stattzufinden, die teilweise durch die Pandemie und die Finanzkrise von 2007–2009 unterbrochen wurden.
„Wenn wir mit Unternehmen sprechen und uns die Daten ansehen, sehen wir keine De-Globalisierung“, sagt Portfoliomanager Rob Lovelace. „Mein Eindruck ist vielmehr, dass die globalen Lieferketten neu ausgerichtet werden. Und ich glaube nicht, dass die Lage wirklich so dramatisch ist, wenn man das schnelle Wachstum des digitalen Handels berücksichtigt, der im Gegensatz zum physischen Handel nur schwer mit herkömmlichen Kennzahlen zu erfassen ist.“
Tatsächlich gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass viele Unternehmen im Zuge der Schaffung redundanter Lieferketten immer globaler werden. Vorzeigekind für diese Entwicklung ist Taiwan Semiconductor Manufacturing Company oder TSMC, der weltweit größte Halbleiterhersteller. Um seine globale Reichweite zu erweitern, baut TSMC neue Produktionsanlagen in Arizona und Japan. Halbleiter sind aufgrund ihrer Verwendung in der Verteidigungsbranche zu einem so sensiblen Thema geworden, dass die US-Regierung strenge Beschränkungen dafür erlassen hat, wohin und wie sie exportiert werden dürfen.
Andere Beispiele finden sich im Technologiesektor und in anderen Bereichen. Apple gab im September bekannt, dass es mit der Produktion des iPhone 14 in Indien beginnen werde, womit das Unternehmen seine Fertigungskapazitäten – unter anderem in China, der Tschechischen Republik und Südkorea – erweitert. Im Automobilsektor ergänzte Tesla im vergangenen Jahr seine Produktionszentren in den USA und China mit seinem ersten europäischen Standort in Grünheide (Deutschland).
Im Energiesektor hat die in Texas ansässige ECV Holdings Pläne für den Bau eines Kraftwerks für Industrieparks in der Nähe von Ho-Chi-Minh-Stadt, Vietnam, angekündigt, das hauptsächlich mit Flüssigerdgas aus den USA versorgt werden soll. Inzwischen ist die Liste der US-Unternehmen, die neue Produktionsanlagen in ihrem Heimatland errichtet haben, in den letzten Jahren enorm gewachsen und umfasst General Motors, Intel und US Steel – was Hoffnungen auf eine industrielle Renaissance in den USA schürt.
Die Strategie „China+1“
Im Zuge der Diversifizierung von Lieferketten wird häufig fälschlicherweise davon ausgegangen, dass China als größte Fertigungsbasis der Welt verdrängt werden könnte. Es ist jedoch vielmehr so, dass viele Unternehmen auf die „China+1“-Strategie umsteigen, indem sie ihre Geschäftstätigkeit in China aufrechterhalten und andernorts neue Anlagen hinzufügen“, erklärt Portfoliomanagerin Winnie Kwan. Die zusätzlichen Investitionen in China werden sich wahrscheinlich darauf konzentrieren, hauptsächlich den Binnenmarkt zu bedienen, merkt sie an, während zusätzliche Investitionen an anderen Standorten den Rest der Welt anvisieren.
„Eine Schlüsselfrage ist, ob die Strategie „China+1“ skalierbar ist oder nicht“, sagt Kwan. „Können Sie beispielsweise in Indien oder Mexiko eine neue Anlage aufbauen und die Produktionskapazitäten nach Bedarf erweitern? Gibt es genug Arbeitskräfte und ist die Stromversorgung ausreichend? Ist eine Logistikinfrastruktur vorhanden? Kann das Management die zusätzliche Komplexität bewältigen? Das sind die Fragen, auf die ich mich konzentriere, wenn wir diese Entwicklungen analysieren und nach Anlagemöglichkeiten suchen. Nicht jedes Unternehmen wird es richtig machen.“
Tatsächlich ist der Strom der zusätzlichen Investitionen eine wichtige Kennzahl, die Anleger im Auge behalten können. Laut einer von AmCham Shanghai im Jahr 2021 durchgeführten Umfrage unter ausländischen Unternehmen, die in China tätig sind, wurden die meisten Investitionen nach Südostasien, Mexiko, Indien und die USA umgeleitet. Allerdings gaben nur 63 der 338 befragten Unternehmen an, solche Pläne zu verfolgen, was darauf hindeutet, dass der Prozess der Rückverlagerung langsamer und gezielter vor sich geht, als von einigen Marktteilnehmern erwartet.
„Es könnte ein Jahrzehnt dauern, bis die Unternehmen den Umstieg vollzogen haben“, fügt sie hinzu. „Es steht aber außer Frage, dass dieser Prozess im Gange ist, und meines Erachtens wird er zu den wichtigsten Anlagethemen der 2020er-Jahre gehören.“
Wer profitiert von der Rückverlagerung?
In Anbetracht der Tragweite dieses Unterfangens werden die investitionsbezogenen Auswirkungen in zahlreichen Sektoren und Regionen spürbar sein. Die folgenden vier Bereiche dürften in den kommenden Jahren von der Rückverlagerung profitieren.
1 Indien Dank seiner Nähe zu China, seinen gut ausgebildeten Arbeitskräften und einer schnell wachsenden, unternehmensfreundlichen Wirtschaft könnte Indien von allen Ländern am besten positioniert sein, um von einer Diversifikation der Lieferkette zu profitieren. Die indische Regierung hat mutige Schritte unternommen, um den Ausbau der Produktionsstätten zu fördern, insbesondere im Smartphone-Bereich, wo Apple mit Auftragnehmern wie Foxconn zusammenarbeitet, um die neuesten iPhones zu bauen. Es wird erwartet, dass sich der Fertigungssektor im nächsten Jahrzehnt beschleunigen wird, was das Wachstum der indischen Wirtschaft antreibt und andere Branchen wie Banken, Energie und Telekommunikation ankurbelt.
„Indien ist heute wohl besser positioniert als China vor 20 Jahren“, so Johnny Chan, Aktienanalyst der Capital Group.
2 Mexiko Ähnlich wie Indien ist Mexiko aufgrund seiner Nähe zu einer der größten Volkswirtschaften der Welt eine attraktive Basis für die Erweiterung von Produktion und Logistik. Viele US-Unternehmen sind in den 1990er Jahren nach der Verabschiedung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) in das Land geströmt. Im Zuge des 2020 von den USA, Kanada und Mexiko ratifizierten Nachfolgeabkommens USMCA hat sich dieser Prozess noch beschleunigt.
Die jährlichen Exporte Mexikos in die USA sind in den letzten Jahren stark gestiegen. Obwohl ein Großteil davon auf den Einfluss amerikanischer Unternehmen zurückzuführen ist, stockt auch China seine Präsenz in Mexiko auf. So baut beispielsweise die Hisense Group, einer der größten chinesischen Gerätehersteller, derzeit in Monterrey einen 260 Millionen US-Dollar schweren Industriepark, in dem Kühlschränke, Waschmaschinen und Klimaanlagen für den US-Markt hergestellt werden sollen. Im Automobilsektor haben BMW und Nissan in letzter Zeit ebenfalls ihre Kapazitäten südlich der Grenze erweitert.
3 Automatisierungsanbieter Eine der größten Hürden bei der Diversifizierung der weltweiten Fertigungskapazitäten ist ein chronischer Arbeitskräftemangel, insbesondere in den Industrieländern. Laut Portfoliomanager Mark Casey dürfte die auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Automatisierung eine Antwort auf dieses Problem geben. Viele asiatische Länder geben mit ihrem hohen Maß an industrieller Automatisierung hier den Trend vor, und die USA und Europa werden voraussichtlich folgen. Beide Regionen haben Raum für Wachstum, was Top-Unternehmen in der globalen Roboterindustrie positive Aussichten beschert, darunter Keyence in Japan, Schneider Electric in Frankreich und ABB Ltd. in der Schweiz Darüber hinaus entwickelt Amazon seine eigene beeindruckende KI-Technologie, so Casey.
„Amazon verfügt über ein neues robotergestütztes Kommissionier- und Verpackungsgerät namens Sparrow, das mehr als 60 Millionen verschiedene Produkte aufnehmen und in Versandkartons verpacken kann. So wird jede Kommissionierung innerhalb weniger Sekunden erledigt“, sagt Casey. „Vor nur sieben Jahren konnten die experimentellen Roboter von Amazon nur eine kleine Anzahl von Artikeln handhaben, und jede Entnahme hat ein paar Minuten gedauert. Ich glaube, diese Technologie kommt schneller als wir denken, und meines Erachtens ist sie nicht in den Aktienkursen der großen amerikanischen oder europäischen Unternehmens enthalten.“
4. Multinationale Konzerne Obwohl es eher widersinnig erscheint, sind die multinationalen Unternehmen, die in der Vergangenheit am meisten vom rasanten Tempo der Globalisierung profitiert haben, möglicherweise am besten für die schöne neue Welt der Re-Globalisierung gewappnet, so Portfoliomanagerin Jody Jonsson. Die größten und marktbeherrschenden Unternehmen der Welt haben diese Position aus einem bestimmten Grund erreicht – sie verfügen oft über die Erfahrung und die Ressourcen, um sich besser an sich wandelnde Handelsmuster anzupassen als kleinere Unternehmen, die nur in einzelnen Märkten tätig sind.
„Meiner Ansicht nach werden gut geführte, multinationale Unternehmen ihre internationalen Produktionsstätten und ihre internationale Kundenbasis beibehalten, sie werden jedoch zunehmend lokale Redundanzen in ihren operativen Betrieb integrieren“, so Jonsson. „Ich nenne das „Multi-Lokalisierung“. Dazu gehört, dass einige Teile der Lieferkette wieder zurück in die USA verlagert, andere Teile weiterhin ausgelagert und neue Produktionsstätten in Schlüsselbereichen auf der ganzen Welt errichtet werden.
„Wenn wir eines aus der COVID-Krise gelernt haben, dann das: Unternehmen müssen über vielfältige Lieferketten verfügen“, fügt sie hinzu. „Wir sind noch nicht dort, aber der Prozess ist in vollem Gange.“
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