Anleger stehen vor der dringenden Aufgabe, die Risiken im Bereich der Biodiversität zu verstehen, zu analysieren und angemessen darauf zu reagieren.
15.03.2024 | 09:58 Uhr
Die Bedrohungen für die biologische Vielfalt auf der Erde nehmen ständig weiter zu, von gefährdeten Arten wie dem Spitzmaulnashorn in Südafrika bis hin zum schrumpfenden Regenwald im Amazonasgebiet. Um diese Vielfalt zu bewahren, müssen Tiere, Pflanzen und andere Lebewesen geschützt werden, ebenso wie die Ökosysteme, zu denen sie gehören. Das ist so wichtig, weil sie unverzichtbar für die Gesundheit unseres Planeten und zugleich für die Produkte, Dienstleistungen und wirtschaftlichen Aktivitäten ist, die unser tägliches Leben bestimmen. Dennoch lässt sich sagen, dass die Biodiversität bis vor kurzem keinen hohen Stellenwert bei Anlegern hatte.
Das mag überraschend erscheinen, wenn man die große Bedeutung der Biodiversität bedenkt, die schließlich den lebendigen Teil der natürlichen Welt ausmacht. Zusammen mit den abiotischen Ressourcen – d. h. den unbelebten Bestandteilen der natürlichen Welt wie Land, Wasser, Luft und Mineralien – bildet die biologische Vielfalt den weltweiten Bestand an natürlichen Vermögenswerten, das sogenannte Naturkapital.
Naturkapital liefert die Bausteine für Ökosystemleistungen, die das Leben erhalten, Wohlstand schaffen und deshalb so wichtig für unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften sind. Der Verlust der biologischen Vielfalt allein könnte die Weltwirtschaft in den kommenden Jahren deshalb Billionen von Dollar kosten – zusätzlich zu den Kosten in Billionenhöhe, die durch den Klimawandel entstehen.
Um es auf den Punkt zu bringen: Die Biodiversität ist das Lebenserhaltungssystem unserer Welt. Sie bildet die Grundlage, auf der fast alle Güter und Dienstleistungen produziert werden.
Viele Jahre lang haben sich Regierungen und Anleger auf die materiellen Auswirkungen des Klimawandels konzentriert und die Rolle der Natur dabei kaum berücksichtigt. Inzwischen wird jedoch zunehmend anerkannt, dass starke wechselseitige Verbindungen und unzählige Rückkopplungsschleifen zwischen dem Klimawandel und der Natur bestehen. Die Bedeutung von Biodiversitätsrisiken wird deshalb mittlerweile stärker wahrgenommen.
Aufgrund der erheblichen Wechselwirkungen zwischen den sowie innerhalb der verschiedenen Ökosysteme haben Biodiversitätsrisiken eine besonders hohe Komplexität. Ökosystemleistungen können in vier miteinander verbundene Kategorien eingeteilt werden: die Regulierung natürlicher Ökosystemprozesse, wie z. B. die Bestäubung von Blüten; die Bereitstellung von materiellen Produkten, einschließlich Nahrungsmitteln; die kulturellen oder immateriellen Vorteile, die sich aus einer harmonischen Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt ergeben; und die grundlegende Infrastruktur der Sauerstoffproduktion, der Wasser- und Nährstoffkreisläufe und der Bodenbildung, die alle anderen Ökosystemleistungen ermöglicht und so die wichtigste Rolle einnimmt. (Abbildung)
Die Ursachen für den Verlust der Biodiversität hängen ganz entscheidend damit zusammen, dass alles in unserer Umwelt so stark miteinander verflochten ist. Veränderungen in der Landnutzung (z. B. in Form von Abholzung) und in der Meeresnutzung zählen zu den größten Bedrohungen für die biologische Vielfalt. Diese Umwandlung von Land ist nach Angaben des World Wildlife Fund der Hauptgrund für den Rückgang der Population von Wildtieren (Säugetiere, Vögel, Amphibien, Reptilien und Fische) um 69% seit 1970.
Die Abholzung der Wälder hat jedoch nicht nur Auswirkungen auf die Tierwelt, sondern auch auf das Klima. So absorbiert der Amazonas-Regenwald heutzutage 30% weniger Kohlenstoffdioxid als in den 1990er Jahren, weil er weitflächig abgeholzt wurde, um Platz für Rinderfarmen zu schaffen. Infolge der Abholzung kann der Wald weniger Feuchtigkeit speichern und an die Atmosphäre abgeben.
Die abnehmende Feuchtigkeit im Amazonasgebiet hat starke Auswirkungen auf den globalen Wasserkreislauf, d. h. auf die Entstehung von Regen und auf die Schmelz-, Gefrier- und Verdunstungsprozesse weltweit. Das wirkt sich wiederum negativ auf die Lebensräume weiterer Arten aus und verändert das globale Klima. Die Abholzung von weiteren 20% des Amazonasgebietes könnte mehr als 90 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre freisetzen. Das wäre 2,5-mal mehr als die weltweiten jährlichen Emissionen durch fossile Brennstoffe.
Es gibt jedoch Grund zur Hoffnung, denn die Verflechtungen wirken sich in beide Richtungen aus. So kann sich der gleichzeitige Kampf gegen den Klimawandel und gegen den Verlust der Biodiversität letztlich doppelt auszahlen. Ein Beispiel dafür sind etwa Maßnahmen gegen die Abholzung im Amazonasgebiet. Sie können zusätzliche Kohlenstoffsenken schaffen, die mehr CO2 absorbieren und so die Geschwindigkeit und das Ausmaß des Klimawandels verringern.
Dieser enge Zusammenhang zwischen dem Klima und unserer natürlichen Umwelt zeigt sich auch in einer Einschätzung der National Academy of Sciences (NAS) in den USA über das Potenzial von naturbasierten Lösungen wie grüner Infrastruktur und der Abscheidung und Speicherung von CO2 (CCS). Die NAS geht davon aus, dass solche Lösungen in einem Szenario mit einer Erderwärmung von weniger als 2 Grad Celsius bis 2030 einen Beitrag von 37% und bis 2050 einen Beitrag von 20% zur notwendigen Reduzierung der CO2-Emissionen leisten könnten.
Mit anderen Worten: Der gleichzeitige Kampf gegen den Klimawandel und gegen den Verlust der Biodiversität kann dabei helfen, zwei systemische Probleme auf einmal zu bewältigen. (Abbildung)
Darüber hinaus kann das Bewusstsein für die Zusammenhänge zwischen biologischer Vielfalt und Klimarisiken den Anlegern unserer Ansicht nach dabei helfen, wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen und Investitionsmöglichkeiten für ihre Portfolios zu erschließen. Dazu zählen etwa Emissionsgutschriften, landwirtschaftliche Lösungen, Ökotourismus, Wassermanagement, grüne Infrastruktur und andere naturbasierte Lösungen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Das Geflecht der Risiken wird noch komplexer, wenn auch weitere Ursachen für den Verlust der Biodiversität berücksichtigt werden. Der Klimawandel und die Veränderungen in der Land- und Meeresnutzung sind dabei nämlich nur zwei der gravierendsten Faktoren. Hinzu kommen unter anderem die direkte Ausbeutung der Natur, die Verschmutzung der Umwelt und invasive Arten.
Die schädlichste Wirkung wird derzeit zwar der veränderten Land- und Meeresnutzung beigemessen, doch diese Rangfolge kann sich im Laufe der Zeit ändern. Dadurch gewinnt die Lage weiter an Komplexität. So könnte etwa, wenn der Kampf gegen den Klimawandel scheitert, das Klima zur Hauptursache für den Verlust der Biodiversität werden.
Anleger stehen vor der dringenden Aufgabe, diese Risiken und Chancen zu analysieren und angemessen darauf zu reagieren. Mit dem zunehmenden Verlust der Biodiversität wachsen gleichzeitig auch die Risiken für Unternehmen und für Anlageportfolios. Während Regierungen und Regulierungsbehörden auf den Verlust der Biodiversität reagieren, steigt der Druck auf Unternehmen und Anleger, sich ebenfalls mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Dadurch eröffnen sich wiederum neue Möglichkeiten.
Die Analyse von Risiken und Chancen im Zusammenhang mit der Natur und der strategische Umgang mit ihnen sind keine unlösbaren Aufgaben. Anleger können praktische Schritte unternehmen, um Biodiversitätsrisiken in angemessener Weise zu berücksichtigen. Dazu ist es zunächst notwendig, die Rolle der Biodiversität im breiteren ökologischen Gefüge und im Rahmen von Ökosystemleistungen zu verstehen. Außerdem gilt es zu erkennen, wie diese Leistungen zusammenwirken und so eine Voraussetzung für das Leben und für alle wirtschaftlichen Aktivitäten bilden.
Auf dieser Grundlage können Anleger einen Rahmen entwickeln, um die möglichen Einflüsse der Biodiversität auf das Geschäft verschiedener Unternehmen zu bewerten. Dabei geht es nicht nur um physische Risiken und Übergangsrisiken, sondern auch um wirtschaftliche Chancen und Investitionsmöglichkeiten, die sich aus den Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel und den Verlust der Biodiversität potenziell ergeben. Mit einem angemessenen konzeptionellen Rahmen und gestützt auf die relevanten Fachdaten ist es möglich, die Risiken und Chancen der Biodiversität auf der Ebene verschiedener Branchen und einzelner Emittenten zu bewerten. Die Erkenntnisse können anschließend auf Anlegerportfolios übertragen werden, um bessere Erträge zu erzielen.
Die Anwendung dieser Ansätze im Rahmen einer aktiven Strategie, die Grundlagenforschung, externes Fachwissen und eine gezielte und verantwortungsvolle Einwirkung auf Emittenten* miteinander vereint, kann Anlegern zu einer soliden langfristigen Wertentwicklung verhelfen. Zugleich kann die potenzielle Gefährdung durch naturbedingte Geschäfts- und Investitionsrisiken dadurch verringert werden.
Diese Maßnahmen reichen für sich genommen zwar nicht aus, um die Biodiversitätskrise zu bewältigen. Sie können aber dazu beitragen, eine Welt zu schaffen, in der sich unsere Volkswirtschaften eines Tages eher wie Ökosysteme und weniger wie invasive Arten verhalten.
Sie möchten sich näher zu den Risiken und Chancen im Zusammenhang mit
diesem Thema informieren? Hier können Sie unser Whitepaper in englischer
Sprache herunterladen: Biodiversity in the Balance: How Nature Poses Investment Risks and Opportunities.
* AB wirkt insoweit auf Emittenten ein, wie es nach dem Ermessen von AB im Interesse seiner Kunden ist.
Die Autoren danken Max Lulavy, Environmental Research Associate, für seinen wertvollen Beitrag zu dieser Arbeit.
In diesem Dokument zum Ausdruck gebrachte Meinungen stellen keine Analysen, Anlageberatungen oder Handelsempfehlungen dar, spiegeln nicht unbedingt die Ansichten aller Portfoliomanagementteams bei AB wider und können von Zeit zu Zeit überarbeitet werden.
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