Rückblickend war die Debatte über Basis- versus Risikoszenarien seit der Großen Finanzkrise von 2008/2009 sinnlos. Dominante Währungsbehörden führten zu einem risikofreudigen Basisszenario an den Finanzmärkten.
19.01.2022 | 08:54 Uhr
Fast ununterbrochen umfangreiche Programme zum
Ankauf von Vermögenswerten durch die Zentralbanken ließen die Wirkung
der Wirtschafts- und Fiskalpolitik in den Hintergrund treten. In den
vergangenen 13 Jahren kam es zu einer Vermögenspreisinflation, wie sie
seit dem Zweiten Weltkrieg nur selten beobachtet wurde. Meistens waren
die makroökonomischen Risikoszenarien nur von kurzer Dauer oder wurden
auf länderspezifische bzw. regionale Spannungen zurückgeführt.
Nicht einmal die stärker synchronisierte Wachstumsverlangsamung in den Schwellenländern zwischen Mitte 2013 und 2016 konnte die Globalisierung destabilisieren. Der starke deflationäre Schock und der globale Wachstumsrückgang, der die Welt im ersten Quartal 2020 mit dem Ausbruch der Pandemie traf, war angesichts der immensen Liquiditätsbereitstellung durch die Zentralbanken nur von kurzer Dauer.
Der anhaltende Interventionismus der Zentralbanken verwischte die Grenzen zwischen Basis- und Risikoszenarien. Im Folgenden reflektiere ich mit etwas Abstand die Dynamik der Erstellung von Basis- und Risikoszenarien auf drei Ebenen: Die Sicht der Ökonomen auf den globalen makroökonomischen Ausblick, die Sicht der für die Portfoliokonstruktion verantwortlichen Akteure sowie die Ansichten und Einstellungen der jeweiligen Anlegergruppen.
Das Narrativ eines Basisszenarios für die
Weltwirtschaft basiert auf der Feststellung, dass das reale Wachstum in
den entwickelten bzw. Schwellenländer-Volkswirtschaften in den Jahren
2022 und 2023 über den historischen Durchschnittswerten liegen wird,
während sich die Arbeitsmärkte erholen. Anhaltende Engpässe auf der
Arbeits- und Angebotsseite der Wirtschaft haben die globale Inflation
auf ein unangenehm hohes Niveau getrieben. Die einzige Ausnahme ist
China, das nach dem Platzen einer Immobilienblase zu einer ‚weichen
Landung‘ gezwungen ist.
Ähnlich erging es Japan Ende der 1980er Jahre.
Tatsache ist, dass sich die Ökonomen darauf geeinigt haben, dass die
Zentralbanken ihre Geldpolitik straffen müssen. Ihr Basisszenario in
Bezug auf künftige Leitzinserhöhungen der Fed geht von vier
Zinsschritten im Laufe des Jahres 2022 aus, gefolgt von weiteren drei
bis vier Zinsschritten im Jahr 2023. Dass die FED im laufenden Jahr auch
mit der Verkürzung ihrer Bilanz beginnen wird, ist unbestritten. Mir
fällt auf, dass sich die Entwicklung von Risikoszenarien weniger auf den
Konsens bezüglich des Zinserhöhungspfads konzentriert, sondern eher auf
externe Ereignisse wie eine ‚harte Landung‘ Chinas, neue
COVID-19-Varianten oder geopolitischen Stress, der das Wachstum
destabilisiert.
Daraus ergeben sich wenig differenzierte Basisszenarien,
d.h. sie konzentrieren sich auf einen Anstieg der FED-Leitzinsen in den
nächsten zwei Jahren in Richtung einer Spanne von 2,00 bis 2,50 %. Dies
könnte zu einem Anstieg der Rendite 10-jähriger US-Staatsanleihen in
Richtung 2,25 % führen. Die Bloomberg-Konsensprognose der Volkswirte für
10-jährige US-Renditen per Ende 2022 liegt mit 2,13 % genau zwischen
den 2,01 %, die für entsprechende 1-Jahres-Forwards angesetzt werden,
und den häufig genannten 2,25 %.
Das folgende Risikoszenario
wird nur selten angeführt: Was wäre, wenn die FED die Zinssätze in
diesem Jahr sieben Mal in Folge anhebt, beginnend mit der Sitzung des
Offenmarktausschusses am 16. März? Das würde die US-Leitzinsen bis zum
14. Dezember in Richtung 1,75% bis 2,00% treiben.
Natürlich sind
sich die FED-Gouverneure und insbesondere der Vorsitzende Jerome Powell
sowie die Co-Vorsitzende Lael Brainard der Auswirkungen bewusst, die ein
solches Szenario auslösen könnte. Es würde die Märkte in Aufruhr
versetzen. Diese Überlegung bringt uns zurück zum Konsens von vier
Zinserhöhungen. Unterstellt man eine 80-prozentige Wahrscheinlichkeit
für vier Anhebungen und eine 20-prozentige für sieben Erhöhungen, landet
man bei 1,275 %, entsprechend einem Pfad von fünf Zinsschritten im Jahr
2022. Interessant, denn dieser Pfad würde den Glaubwürdigkeitsstatus
der FED besiegeln.
Eine solche Straffung würde zusammen mit einer sinkenden Verbraucher-Kerninflation in Richtung der FED-Schätzung von 2,7 % zum Jahresende das Beste aus beiden Welten bieten. Die Märkte könnten sich stabilisieren, und die 10-jährige Rendite würde weniger unter Aufwärtsdruck geraten als heute befürchtet. Realrenditen dürften sich stärker normalisieren als Nominalrenditen.
Damit sind wir bei der zweiten Ebene angelangt, und zwar mit Blick auf das Basis- versus Risiko-Szenario im Rahmen der Portfoliokonstruktion. Offene Liquiditätsschleusen sorgten zwischen 2009 und 2021 für eine starke Wertentwicklung passiver, indexierter Anlagelösungen (passive Fonds und ETFs). Aktive Manager mussten in ihrer engen, auf Überzeugung basierenden Portfoliokonstruktion erstklassig sein, um ihre Benchmarks oder Referenzindizes zu schlagen. Eine defensive Ausrichtung war nicht erforderlich. Der optimale Weg war das Ausnutzen des Markt-Betas.
Da wir uns auf eine übergreifende Straffung durch
die Zentralbanken der Industrie- und Schwellenländer vorbereiten,
könnten die einfachen Zeiten vorbei sein. Passive Lösungen, selbst wenn
sie über Anlageklassen hinweg gut diversifiziert sind, könnte nun „die
zweite Geige spielen“. Aktive Manager, die bewiesen haben, dass sie in
Momenten der Risikoaversion und des Marktstresses gut bestehen können,
sollten Rückenwind von smarten Fonds-Selektoren erhalten.
Aktive Anleger haben in den letzten zehn Jahren nach Absicherung Ausschau gehalten. Risikoindikatoren wie VIX-Index-Futures haben ein starkes ‚Contango‘ gezeigt (höhere Futures- als Kassapreise), aber auch eine starke Verzerrung, da die Optionskosten, zu denen man sich absichern kann (durch höhere implizite Volatilität), mit der Zeit aggressiv ansteigen. Ähnliche Profile gibt es bei Aktien, Indizes für Unternehmensanleihen oder wichtigen Währungspaaren. Mehr als ein Jahrzehnt lang war die Unsicherheit stets präsent. Doch war diese Paranoia in der Tat etwas unangebracht, da der Zentralbank-„Put“ garantiert war. Dennoch blieben aktive Manager wachsam und kauften Absicherungen. Eine solche Haltung könnte sich in Zukunft besser auszahlen.
Das Narrativ des Basisszenarios bereitet uns auf
die letzte Phase der Pandemie vor. Die Gesundheitskrise wird endemisch.
Jährliche Impfungen, bessere Behandlungen und leicht einzunehmende
Medikamente werden den Lösungsmix darstellen. Die Zentralbanken der
Schwellenländer haben im Laufe des Jahres 2021 mit der Straffung der
Geldpolitik begonnen. Auch einige Zentralbanken der Industrieländer
(Vereinigtes Königreich, Neuseeland, Norwegen) haben den Zyklus
eingeleitet. Die Bank of Canada wird Ende Januar damit beginnen.
Diesmal ist es anders. Viele, sogar die meisten Marktteilnehmer haben noch nie einen synchronisierten globalen geldpolitischen Straffungszyklus erlebt. Eine solche Episode steht uns bevor.
Auf einer dritten Ebene bewerten wir das
Verhalten institutioneller Endanleger in Bezug auf aktive, passive und
weniger liquide alternative Lösungen gegenüber dem Verhalten der
Privatanleger. Institutionelle Anleger, die sich für eine passive Lösung
auf den Aktien- und Anleihenmärkten in Kombination mit illiquiden
Alternativen entschieden haben, könnten über die Robustheit ihrer
Mischung ins Grübeln geraten, sobald Risikoszenarien eintreten.
Illiquide Anlagelösungen in den Bereichen Private Equity, Private Debt,
Leveraged Loans oder Infrastruktur haben ebenfalls von der durch
Zentralbanken reichlich vorhandenen Liquidität profitiert.
Selbst wenn keine täglichen Preisfeststellungen erfolgen, haben sich die Bewertungen dieser Anlagen ebenfalls erhöht. Wenn sich die Bewertungen alternativer Anlagen nach unten bewegen, könnte ein fehlendes Drawdown-Management der liquiden Komponenten die Portfoliokennzahlen schnell nach unten drücken. Positiv zu vermerken ist, dass institutionelle Akteure überwiegend zyklusübergreifend investieren und nahezu vollständig investiert bleiben.
Für den Privatanleger, der in den letzten zwei Jahren mit großer Überzeugung in den Markt eingestiegen ist, ist Panik kein guter Ratgeber. Ein Ergebnis, bei dem private Anleger in der Breite verkaufen, könnte jedoch unmittelbar bevorstehen, sobald die strafferen finanziellen Bedingungen zu niedrigeren Bewertungen führen.
Nach mehr als einem Jahrzehnt steigender monetärer Wasserstände treten wir in eine Phase fallender Pegel ein. Die Flut wird von der Ebbe abgelöst. Differenzierung und Zuweisung von Wahrscheinlichkeiten neben Basis- und Risikoszenarien werden die Spreu vom Weizen trennen. Ökonomen, professionelle Vermögensverwalter und institutionelle bzw. private Endanleger werden sich bei der Navigation durch die künftigen Marktbedingungen unterschiedlich verhalten.
Passive Lösungen könnten als schnelles und einfaches Mittel für den Erhalt und die Vermehrung von Kapital an Bedeutung verlieren. Selektivität, Überzeugung und Drawdown-Management-Fähigkeiten echter aktiver Investmentmanager verdienen mehr Aufmerksamkeit.
Diesen Beitrag teilen: