ODDO BHF - " Frankreichs Kapitalmärkte im Strudel der Politik"

Verfasst von: Prof. Dr. Jan Viebig CIO ODDO BHF SE
Investment View

Die überraschend angesetzten Parlamentswahlen in Frankreich ziehen die Kapitalmärkte in Mitleidenschaft.

25.06.2024 | 09:30 Uhr

Noch am Abend der Europawahl, am Sonntag, 9. Juni, hatte Staatspräsident Emmanuel Macron das Parlament aufgelöst und Neuwahlen angesetzt. Am 30. Juni wird der erste Wahlgang erfolgen, am 7. Juli der zweite. Aktuellen Umfragen zufolge ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das rechte Wahlbündnis unter Führung des Rassemblement National (RN, Nationale Sammlung) von Marine Le Pen als stärkster Block aus der Wahl hervorgehen und den künftigen Premierminister stellen wird. Die damit verbundenen Unsicherheiten haben zu deutlichen Kursverlusten des französischen Aktienmarktes und einer kräftigen Ausweitung des Renditeunterschieds zwischen französischen und deutschen Staatsanleihen geführt.

Schwierige politische Konstellation

Es ist müßig darüber zu diskutieren, wie zwingend die Auflösung des Parlaments war. Fakt ist, dass Macrons Regierungen aus einer Minderheitsposition heraus regieren mussten und immer seltener eine Mehrheit für ihre Gesetzesvorhaben in der Assemblée nationale (Nationalversammlung) fanden. Stets blieb die Sorge, durch ein Misstrauensvotum zu Fall gebracht zu werden. Dass Macron das Parlament aufgelöst hat, zeigt zumindest Mut. Möglicherweise hat er eine Strategie im Hinterkopf wie die von Charles de Gaulle im Jahr 1968. Dieser hatte mitten in der Studentenrevolte das Parlament aufgelöst. Er hatte dies mit der klaren Botschaft verbunden: Ihr habt die Wahl zwischen mir, de Gaulle, und dem Chaos. De Gaulles Kalkül ging damals auf. Doch kann Macron ein ähnliches Husarenstück gelingen? Die ersten Wahlumfragen zeigen den Rassemblement National mit dem potenziellen Premierminister Jordan Bardella weit vor Macrons Bewegung Renaissance.

Allerdings ist eine verlässliche Vorhersage, wie sich das Parlament künftig zusammensetzen wird, kaum möglich. Denn das französische Wahlrecht sieht in den 577 Wahlkreisen eine reine Mehrheitswahl vor. Falls einer der Kandidaten nicht auf Anhieb mehr als 50 Prozent der Stimmen erreicht, müssen sich die beiden stärksten Kandidaten einer Stichwahl stellen. Somit sind jene Parteien im Vorteil, die regional fest verankerte Kandidaten aufstellen können. Parteien, die keine regionale Basis haben - wie liberale oder umweltpolitische Parteien - sind durch dieses Wahlrecht strukturell benachteiligt. Bisher hat dieses Wahlsystem auch den Einfluss rechtsextremer Parteien in der Assemblée Nationale begrenzt. So stellt der Rassemblement National aktuell nur etwas mehr als 15 Prozent der Abgeordneten, obwohl er in Umfragen seit Jahren deutlich über diesem Wert liegt. 2022 hatte Marine Le Pen im ersten Wahlgang zur Präsidentschaftswahl 23,15 Prozent der Stimmen bekommen. Doch dieses Mal könnte der Rassemblement National auch die Mehrheit in der Assemblée Nationale erringen, vor allem, wenn sich die anderen Parteien in den Wahlkreisen gegenseitig die Stimmen wegnehmen. Die Stärke der Rechtsextremen zwingt ihre Gegner dazu, die Kräfte schon vor dem ersten Wahlgang zu bündeln.

Mögliche Konstellationen nach der Wahl

Angesichts eines möglichen Wahlsiegs der Rechtsextremisten haben sich die linken Parteien - von der sozialdemokratischen Parti Socialiste über die Ökologische Partei und die linksextreme La France Insoumise („Aufmüpfiges Frankreich“) von Jean-Luc Mélenchon bis zur Kommunistischen Partei - in einem Wahlbündnis zusammengeschlossen, das etwas pathetisch unter dem Namen Nouveau Front Populaire („Neue Volksfront“) auftritt. Gleichzeitig hat sich der Einfluss des Linkspopulisten Mélenchon etwas verringert. Dieser hatte das bisherige Links-Bündnis NUPES noch dominiert. 

Zur Verringerung der Bedeutung Mélenchons hat auch der Wiederaufstieg der Sozialisten beigetragen. Diese hatten in den vergangenen Jahren einen beispiellosen Absturz erlebt. Unter Führung von Raphaël Glucksmann haben sie bei der Europawahl jedoch 13,8 Prozent der Stimmen erreicht und lagen nur knapp hinter Macrons Renaissance, die auf 14,6 Prozent kam. Selbst der sozialistische Altpräsident François Hollande will nun wieder in seinem alten Wahlkreis im Zentralmassiv für die Nationalversammlung kandidieren.

Das Wahlrecht macht den Ausgang der Wahlen sehr schwer vorhersagbar. Zwei Wahlausgänge können nach unserer Einschätzung als wahrscheinlich gelten:

  • Der Rassemblement National gewinnt so viele Wahlkreise, dass er die Regierung stellen kann, höchstwahrscheinlich mit dem erst 28 Jahre alten Parteivorsitzenden Jordan Bardella als Premierminister.
  • Die Wahl endet mit einem allgemeinen Patt zwischen den verschiedenen politischen Lagern. Mögliche Folge wäre eine Blockade im Parlament und im politischen Betrieb Frankreich.

Nach aktueller Lage der Dinge weniger wahrscheinlich ist ein Sieg der Macron-Partei oder des linken Bündnisses. Und eine „Koalition“ zwischen Macron-Partei und dem linken Bündnis erscheint politisch nicht realistisch.

Vermutlich nimmt Macron einen Wahlsieg des Rassemblement National bewusst in Kauf. Offenbar will er das rechtsextreme Lager bis zur Präsidentschaftswahl 2027 entzaubern und so den Einzug von Marine Le Pen in den Elysée-Palast verhindern. Bisher profitiert der Rassemblement National stark davon, dass er noch nie Regierungsverantwortung übernehmen und Wahlversprechen in Politik umsetzen musste. Eine erneute Auflösung des Parlaments durch den Präsidenten wäre frühestens nach einem Jahr möglich.

Drei Mal gab es in der Fünften Republik eine cohabitation, eine „Lebensgemeinschaft“, in der Präsident und Premierminister gegnerischen Lagern angehören. Während der Präsidenten „unter normalen Umständen“ großen politischen Einfluss auf das Politikgeschehen besitzt, kehrt sich die Machtverteilung im Fall der cohabitation zugunsten des Premierministers um - sofern dieser die Unterstützung des Parlaments genießt. Denn die verfassungsmäßigen Machtbefugnisse eines französischen Präsidenten konzentrieren sich auf die Außenpolitik. Innenpolitisch, und eben auch in wirtschafts- und finanzpolitischen Dingen, hat der Premierminister dann die Schlüsselrolle.

Wirtschaftliche Risiken

Die französische Wirtschaft steht heute in Europa relativ gut da. Sie kämpft mit ähnlichen Problemen wie alle europäischen Länder: Jahrelang mussten die langfristig wirkenden Folgen der Finanzkrise von 2008 bewältigt werden und dann die Corona-Pandemie. Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 löste in Frankreich einen ähnlichen wirtschaftlichen Schock aus wie in Deutschland. Doch die französische Wirtschaft hat sich in den letzten Jahren besser geschlagen als die deutsche. Für das laufende Jahr 2024 beispielsweise erwartet der Internationale Währungsfonds (IWF) für Frankreich ein Wirtschaftswachstum von 0,7 Prozent, für Deutschland nur eine Wachstumsrate von 0,2 Prozent. 

Der große Schwachpunkt der französischen Wirtschaft sind vor allem die Staatsfinanzen. Seit der Corona-Pandemie ist das Budgetdefizit auf 5,5 Prozent gestiegen und liegt damit deutlich über der Maastricht-Marke von 3 Prozent. Die Schuldenquote erreichte im Jahr 2023 110,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und dürfte in den kommenden Jahren auch nach den aktuellen Projektionen der Regierung in Paris weiter steigen. Dabei lag die Schuldenquote bis zur Finanzkrise von 2008 im Bereich der 60 Prozent, die im Maastricht-Vertrag gefordert sind.

Die Notwendigkeit, die Verschuldung zu stabilisieren, setzt jeder Regierung – gleich welcher politischen Couleur – einen engen Handlungsrahmen. Gleichzeitig fordern die Wähler angesichts der finanziellen Nöte breiter Bevölkerungsschichten ein größeres staatliches Engagement. Der Rassemblement National greift diese Stimmung auf und will Wohltaten wie eine Senkung des Renteneintrittsalters von 64 Jahren auf 60 Jahre verteilen und viele Verbrauchssteuern senken. Alle Mehrausgaben zusammen könnten sich auf 100 Milliarden Euro oder rund 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beziffern. Es bleibt abzuwarten, ob sich eine eventuelle Regierung des Rassemblement National auf ein Kräftemessen mit den Anleihemärkten einlässt.

Große Unruhe an den Finanzmärkten

Unabhängig vom Wahlausgang wird es schwer, den Staatshaushalt wieder an die Maastricht-Obergrenzen heranzuführen. Auf die schwierige Lage der öffentlichen Finanzen reagieren ausländische Investoren besonders sensibel. Nach Angaben des Finanzministeriums ist der Anteil der von Ausländern gehaltenen französischen Staatsanleihen in den Jahren 2011 bis 2022 bis unter 50 Prozent gesunken und erst in den Jahren 2022 und 2023 wieder auf rund 55 Prozent gestiegen. Frankreich benötigt eine verlässliche Finanzpolitik, damit ausländische Investoren bereit sind, den französischen Staatshaushalt zu finanzieren.

Seit längerem steht Frankreich unter Beobachtung der Ratingagenturen. Die Ansetzung von Neuwahlen lenkt die Aufmerksamkeit der Kreditanalysten noch mehr auf die Staatsfinanzen. „Die vorgezogenen Neuwahlen erhöhen die Risiken für die Haushaltskonsolidierung“, hieß es am Montag, 10. Juni 2024 von Seiten der Ratingagentur Moody’s. Moody’s bewertet Frankreichs Bonität derzeit mit der Note Aa2, Fitch und Standard & Poor’s mit dem leicht schwächeren Rating AA-. Standard & Poor’s hatte Frankreichs Bonitätsnote erst im vergangenen Monat gesenkt.

Angesichts der politischen Unsicherheit ist die Rendite zehnjähriger französischer Staatsanleihen (OAT) in der vergangenen Woche deutlich gestiegen und liegt nun bei 3,2 Prozent. In Deutschland rentieren zehnjährige Bundesanleihen aktuell mit rund 2,4 Prozent. Die Zinsdifferenz hat sich um mehr als 30 auf fast 80 Basispunkte ausgeweitet. Diese Risikoprämie ist die höchste seit 2012 und liegt auf dem Stand von 2017, als neben Emmanuel Macron auch Marine Le Pen gute Chancen auf die Präsidentschaft eingeräumt wurden.

Auch die Aktienmärkte zeigen sich besorgt. Viele Anlegern kennen noch die heftigen Börsenwirkungen des „Regimewechsels“ nach dem Wahlsieg von François Mitterrands am 10. Mai 1981. Damals brach der CAC 40 (auf Basis zurückgerechneter Werte) am Tag der Wiedereröffnung der Börsen um 13 Prozent ein. Bis Mitte Juni 1981 fiel der französische Aktienmarkt um fast 30 Prozent. Davon sind wir aktuell weit entfernt: Seit der Europawahl und der Bekanntgabe von Neuwahlen ist der richtungsweisende Aktienindex CAC 40 um gut 5 Prozent (Stand: 19.06.) zurückgefallen. Das ist keine Panik, aber eine deutliche Neubewertung der Risiken.

Bei aller Unterschiedlichkeit des historischen Kontextes zeigt die Erfahrung von 1981, wie wirtschaftsschädlich abrupte politische Kehrtwenden sein können und wie sehr die Wirtschaft auf eine Politik der ruhigen Hand angewiesen ist. Die großen politischen Herausforderungen – Krieg in der Ukraine, Krieg im Gazastreifen, zunehmende Spannungen in den Beziehungen zu China, ungewisser Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen, um nur einige zu nennen – werden jene Länder am besten bewältigen können, die politische Verlässlichkeit und Verantwortungsbewusstsein beweisen und nicht in Populismus verfallen. Die Geschehnisse in Frankreich betreffen alle europäischen Länder, vor allem jene, mit denen Frankreich durch eine Währungsunion verbunden ist.

Jan Viebig

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