abrdn Kommentar: Was Lagardes Vorstoß bedeutet

Kommentar

Pietro Baffico, European Economist bei abrdn, kommentiert den gestrigen Blogbeitrag von EZB-Präsidentin Christine Lagarde:

25.05.2022 | 09:14 Uhr

„In einem Blogbeitrag erklärte Christine Lagarde, dass sie davon ausgeht, dass die Nettokäufe im Rahmen des Wertpapierkaufprogramms APP (Asset Purchase Programme) sehr früh im dritten Quartal enden werden, um die Zinsen auf der Juli-Sitzung anheben zu können.

Außerdem werde die EZB die negativen Zinssätze wahrscheinlich bis zum Ende des dritten Quartals beenden. Dies verdeutlicht die Forward Guidance inmitten der unterschiedlichen Ansichten über das Tempo der geldpolitischen Anpassung innerhalb des EZB-Rats, da sie zwar optimistischer als im Anschluss an die April-Sitzung ist, aber auch diejenigen zurückweist, die eine baldige Anhebung im Juni oder eine starke Anhebung um 50 Basispunkte im Juli befürworten. Solch ein Blogbeitrag stellt zwar keine geldpolitische Entscheidung dar, dürfte jedoch den Konsens des EZB-Rats auf der bevorstehenden Sitzung am 9. Juni bestimmen.

Die nächste Phase der geldpolitischen Normalisierung solle vorsichtig und schrittweise erfolgen und sich an der Entwicklung der mittelfristigen Inflationsaussichten orientieren. Dabei betont Lagarde Gradualismus, Optionalität und Flexibilität. Das Ziel wäre eine Normalisierung der Zinssätze in Richtung des neutralen Zinssatzes, d. h. des Niveaus, bei dem die EZB das Wachstum weder stimuliert noch bremst. Die jüngsten Schätzungen der EZB für den nominalen natürlichen Zinssatz liegen zwischen 1 % und 1,5 %. Eine Straffung über das neutrale Niveau hinaus scheint nicht in Betracht gezogen zu werden, es sei denn, die Wirtschaft würde sich infolge eines positiven Nachfrageschocks überhitzen, anstatt durch anhaltende negative Angebotsschocks beeinträchtigt zu werden.

Wir rechnen nun mit Zinserhöhungen auf den Sitzungen im Juli, September und Dezember. Damit würde der Einlagensatz im Dezember 2022 auf 0,25 % steigen. Dies gilt trotz einer wahrscheinlichen Verlangsamung des BIP-Wachstums im zweiten Halbjahr dieses Jahres aufgrund des Energieschocks durch die russische Invasion in der Ukraine. Die geldpolitischen Aussichten für 2023 sind trüber, da die Wirtschaft auch mit einem viel schwächeren weltwirtschaftlichen Umfeld und möglichen Rezessionen im gesamten Bereich der entwickelten Länder konfrontiert sein wird. Eine Rezession in der Eurozone ist durchaus denkbar, und eine Pause im Zinserhöhungszyklus im Jahr 2023 ist ebenfalls möglich."

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