Was ist aus der weithin vorhergesagten Rezession geworden, die die US-Wirtschaft in diesem Jahr treffen sollte? Sie ist eingetreten. Nur eben nicht in allen Sektoren der US-Wirtschaft gleichzeitig.
22.09.2023 | 09:07 Uhr
Dieser Ansicht ist Matthias Mohr, Managing Director Financial Intermediaries Germany & Austria bei Capital Group. Verschiedene Sektoren hätten zu unterschiedlichen Zeitpunkten einen Abschwung erlebt. Dank dieses seltenen Falles einer „rollierenden“ Rezession könnten die USA in diesem und im nächsten Jahr möglicherweise gar keine traditionelle Rezession erleben – trotz des doppelten Drucks einer hohen Inflation und hoher Zinssätze. Was bedeutet das für Anleger?
„Die Anzeichen verdichten sich, dass wir in den USA keine Rezession auf breiter Basis erleben werden“, sagt Mohr. „Was wir stattdessen sehen, sind Mini-Rezessionen in verschiedenen Branchen zu verschiedenen Zeiten.“ So sei beispielsweise der Wohnungsbau im vergangenen Jahr stark zurückgegangen, nachdem die US-Notenbank Fed begonnen habe, die Zinsen aggressiv anzuheben. Zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr 2022 sei der Verkauf bestehender Häuser um fast 40 Prozent eingebrochen. „Jetzt sieht es so aus, als ob sich der Wohnimmobilienmarkt zu erholen beginnt, während in anderen Bereichen der Wirtschaft, wie zum Beispiel bei Gewerbeimmobilien, eine Abwärtsspirale beginnt“, erklärt Mohr. „Da immer mehr Menschen von zu Hause aus arbeiten, sind die Aussichten für Büroimmobilien besonders beunruhigend.“
Auch die Halbleiterindustrie sei im Jahr 2022 von unterbrochenen Lieferketten und einer geringeren Nachfrage nach Computerchips geplagt worden. Das habe die Aktien von Unternehmen dieser Branche in den Keller sinken lassen. In diesem Jahr habe sich das Geschäft jedoch stabilisiert, die Nachfrage sei zurückgekehrt und die Aktien von Unternehmen aus der Halbleiterbranche würden die Rallye an den globalen Aktienmärkten anführen.
Kann eine harte Rezession vermieden werden?
„Wenn sich diese Schrumpfungen und Erholungen einzelner Sektoren weiter
fortsetzen“, so Mohr, „könnte es sein, dass das US-Bruttoinlandsprodukt
zu keinem Zeitpunkt in den Jahren 2023 oder 2024 negativ wird. Eine der
am häufigsten vorhergesagten Rezessionen der Geschichte wäre damit
abgewendet.“ Er hält einen kurzen, leichten Abschwung zwar immer noch
für möglich. „Aber solange der Konsum nicht einbricht, könnte eine harte
Rezession ein bloßes Schreckgespenst bleiben“, so der Experte.
Tatsächlich habe die US-Regierung kürzlich gemeldet, dass die US-Wirtschaft im zweiten Quartal mit einer jährlichen Rate von 2,4 Prozent gewachsen sei. Diese Rate liege deutlich über den Konsensschätzungen sowie über dem Wachstum von zwei Prozent im ersten Quartal 2023. „Das überraschend starke Wachstum wird von stabilen Verbraucherausgaben und drastisch gestiegenen Unternehmensinvestitionen getragen, die auf Jahresbasis um 7,7 Prozent zugenommen haben“, sagt Mohr.
Die Stärke der Verbraucher und der Unternehmen habe auch zu einem überhitzten Arbeitsmarkt beigetragen, auf dem viele neue Arbeitsplätze geschaffen worden seien und die Arbeitslosenquote mit 3,6 Prozent fast den niedrigsten Stand seit 50 Jahren erreicht hätte. „Rezessionen sind fast immer mit einem breit angelegten Arbeitsplatzabbau verbunden“, hält Mohr fest. „Davon sind wird aktuell jedoch weit entfernt.“
Inverse Zinsstrukturkurve: Doch kein Signal für eine bevorstehende Rezession?
„Eine inverse Zinskurve gilt als der zuverlässigste Indikator für eine
bevorstehende Rezession. Und tatsächlich ist in den letzten 50 Jahren
jeder US-Rezession eine inverse Zinskurve vorausgegangen“, sagt Mohr.
Aktuell sei die Zinskurve in den USA so stark invertiert wie seit den
frühen 1980er Jahren nicht mehr. Viele Wirtschaftswissenschaftler und
Anleger am Anleihemarkt seien deshalb davon überzeugt, dass eine
Rezession in den nächsten ein bis zwei Jahren unvermeidlich sei. „Diese
Ansicht könnte jedoch falsch sein“, sagt Mohr. „Grund ist die hohe
Inflation.“ Sie habe ein Niveau erreicht, das die US-Wirtschaft seit den
1980er Jahren nicht mehr erlebt habe. „Die Fed hat deutlich gemacht,
dass die Inflationsbekämpfung ihre Priorität ist, und sie scheint sich
ihrem Ziel auch anzunähern: Lag die Inflation vor einem Jahr noch bei
9,1 Prozent, waren es im Juni nur noch 3 Prozent – ein bemerkenswerter
Rückgang in nur 12 Monaten“, so Mohr. Aus seiner Sicht bedeutet das,
dass die Fed die Zinssätze in den kommenden Monaten senken könnte, nicht
weil sie eine Rezession erwarte, sondern weil sie ihrem erklärten Ziel
von zwei Prozent Inflation nahe sei.
„Eine inverse Zinsstrukturkurve heißt nichts anderes, als dass der Markt vorhersagt, dass der Leitzins heute höher und morgen niedriger sein wird, erklärt Mohr. „Sie sagt nicht eine bevorstehende Rezession voraus, sondern nur, dass die Inflation in Zukunft niedriger sein wird und die Fed daher in der Lage, ihren Zinserhöhungszyklus zu beenden. Wenn die Inflation wieder auf zwei Prozent ansteigt, ist eine inverse Zinskurve wiederum ein guter Indikator für ein rückläufiges Wirtschaftswachstum und ein steigendes Rezessionsrisiko.“
Was bedeutet das für Anleger?
Viele Anleger hätten ihre Portfolios für eine Rezession positioniert,
wie die massive Umschichtung in liquide Mittel in den letzten zwei
Jahren zeige. Nach Angaben des Investment Company Institute, einem
Verband für regulierte Investmentfonds, belief sich das in solchen
konservativen Anlagen gehaltene Vermögen zum 30. Juni 2023 auf über 5,4
Billionen US-Dollar. „Anfang des Jahres waren viele Anleger sehr besorgt
über eine bevorstehende US-Rezession“, sagt Mohr. „Aber ich würde
sagen, dass die Wahrscheinlichkeit dafür mittlerweile bei unter 50
Prozent liegt.“
Vor diesem Hintergrund zieht der Experte nun Investitionen in Unternehmen in Betracht, die traditionell von Rezessionssorgen betroffen sind, sich aber in der Vergangenheit als widerstandsfähig erwiesen haben – insbesondere in der Erholungsphase nach der Corona-Pandemie. Der Nachholbedarf nach der Pandemie sei beispielsweise vielen Unternehmen in der Reise- und Freizeitbranche sowie in der Luft- und Raumfahrt zugutegekommen. Auch die Halbleiter-, Chemie- und Ölindustrie seien interessant. Sie hatten zuletzt mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen, doch nun zeichne sich eine Trendwende ab.
„Es ist ein bisschen wie in Samuel Becketts ,Warten auf Godot‘: Alle warten auf jemanden, der nie erscheint. Viele Unternehmen hatten in Erwartung eines Abschwungs begonnen, vorsichtig zu agieren. Gleichzeitig fing die Fed an, die Zinsen zu erhöhen. Als Folge davon gibt es jetzt weniger Unwuchten in der Wirtschaft. Es gibt also weniger Dinge, die von nun an schief gehen könnten“, so Mohr. „In diesem Umfeld konzentriere ich mich auf Branchen, die nicht länger auf eine wirtschaftliche Schwäche warten, die vielleicht nie eintreten wird.“
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