Capital Group: Markteinschätzung in volatilen Zeiten - Kommentar zur europäischen Wirtschaft

Capital Group: Markteinschätzung in volatilen Zeiten - Kommentar zur europäischen Wirtschaft
Marktkommentar

Die Schuldenquote der meisten europäischen Länder wird in diesem Jahr zwangsläufig um 10 bis 15 Prozentpunkte ansteigen.

20.04.2020 | 10:28 Uhr

Vorerst sind die Schuldenquoten der meisten Länder überschaubar, dennoch sollten Investoren ein besonderes Augenmerk auf die Situation in Italien legen, sagt Robert Lind, Volkswirt bei Capital Group. Für das dritte Quartal erwartet er eine Erholung der europäischen Volkswirtschaften.

„Wir erleben derzeit einen schweren wirtschaftlichen Abschwung. Vergleichbare Zahlen sahen wir laut dem IWF zuletzt während der Weltwirtschaftskrise. Das Bruttoinlandsprodukt der meisten Industrieländer wird in diesem Jahr um fünf bis zehn Prozent schrumpfen – und damit stärker als während der globalen Finanzkrise 2008 und 2009.“

„Diese Rezession ist auch deshalb nicht mit den vorherigen zu vergleichen, weil der Dienstleistungssektor am meisten unter dem Shutdown leidet. In früheren Rezessionen war das verarbeitende Gewerbe meist als erstes betroffen. Bei einem eher traditionellen Abschwung verfügt das verarbeitende Gewerbe über überschüssige Lagerbestände. Wird die Nachfrage schwächer, muss es sich entsprechend anpassen – der Dienstleistungssektor ist von so einem Abschwung weniger betroffen. Die Frage wird sein, wie schnell der Dienstleistungssektor wieder zur Normalität zurückkehren kann, um eine Erholung anzukurbeln.“

„Wir haben diese Art von Schock noch nie gesehen. Aus diesem Grund ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, vorherzusagen, wie und wann sich die Wirtschaft erholen wird. Schließlich basieren unsere Wirtschaftsmodelle auf dem, was in den vergangenen 30 bis 40 Jahren geschehen ist. Es gibt keine vergleichbare Rezession, aus der wir Schlüsse ziehen könnten.“

„Trotzdem gehe ich davon aus, dass sich mit der Öffnung der Wirtschaft im dritten Quartal und bis ins Jahr 2021 hinein eine Erholung einstellen wird. Die Unternehmen werden wahrscheinlich ihre Lieferketten überdenken und neu aufsetzen. Der globale Handel stand schon vor der Pandemie unter Druck. Das Coronavirus hat diesen Druck nur noch verstärkt. Die Belastbarkeit der Lieferkette wird künftig eine höhere Priorität haben als niedrigen Kosten. Wahrscheinlich wird zukünftig mehr im eigenen Land produziert werden. Glücklicherweise haben die europäischen Länder zum Teil bereits damit begonnen.“

„Indikatoren für eine mögliche Erholung der Wirtschaft sind in erster Linie die Sterblichkeits- und Infektionsraten. Im nächsten Schritt müssen wir uns an Kennzahlen orientieren, die etwas über die Lage in den Dienstleistungsunternehmen aussagen. Allerdings sind diese nicht sehr präzise und weniger zuverlässig als die für das verarbeitende Gewerbe, da wir uns hier nur auf eine kurze Historie beziehen können. Wahrscheinlich wird die Krise einen tiefgehenden Einfluss auf das Verbraucherverhalten haben. Die Menschen werden beispielsweise nicht mehr so viel reisen wie früher.“

„Mittelfristig werden zusätzliche budgetäre Anreize erforderlich sein, um den Spillover-Effekt des Shutdowns zu minimieren. Das Ausmaß dieses fiskalischen Stimulus ist entscheidend und wird in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 Thema einer größeren Debatte in der Europäischen Union sein.“

„Vor der globalen Finanzkrise waren einige Ökonomen davon überzeugt, dass eine Schuldenquote von über 90 Prozent das Wachstum eines Landes belastet. Heute wissen wir, dass Regierungen höhere Defizite und Schulden haben können als wir in den 80er und 90er Jahren dachten, und dass Schuldenquoten bis zu 100 Prozent des BIP betragen können und kein Problem darstellen. Dank der niedrigen Zinssätze der Zentralbanken in den vergangenen zehn Jahren sind höhere Schulden für die Länder zu handhaben. Es ist unmöglich, genau zu sagen, wo die maximal tragbare Schuldenquote liegt, aber zumindest sind die meisten Länder bislang auch nicht in der Lage, das austesten zu müssen.“

„Die Eurozone und die Finanzmärkte werden dem italienischen Haushalt in den kommenden zwei Jahren besondere Aufmerksamkeit schenken müssen. Italiens Wirtschaft schwächelte bereits vor der Pandemie, die Schuldenquote könnte auf 150 Prozent des BIP ansteigen. Für die Eurozone könnte das zum Problem werden.“

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