Russlands Macht auf der Weltbühne beruht auf seinen riesigen Öl- und Gasreserven. Seit der Invasion in der Ukraine haben die westlichen Länder ihre Sanktionen verschärft, einschließlich erster Bemühungen, einen Teil der russischen Ölexporte zu verbieten. Die Ausweitung und Durchsetzung eines Ölembargos wird jedoch weitreichende Folgen haben – für alle Seiten.
08.04.2022 | 07:54 Uhr
Die Ölmärkte waren bereits vor dem Ausbruch des Krieges unterversorgt; jetzt steuern sie noch stärker auf ein Defizit zu. In den westeuropäischen Ländern haben Umweltgesetze und -vorschriften die Ausweitung des Öl- und Gasangebots im privaten Sektor gebremst, während in den USA die höheren Kapitalkosten und das Streben nach höheren Erträgen das neue Angebot ebenfalls einschränken. Das Ergebnis? Engere und stärker schwankende Märkte. Wenn das russische Öl vom Markt verschwindet, wird es angesichts dieser Beschränkungen sehr schwierig sein, kurzfristig genügend neue Lieferquellen zu finden, um die Lücke zu schließen und einen starken Anstieg der Ölpreise zu verhindern.
Die USA und Großbritannien haben Ölembargos angekündigt, wobei das
US-amerikanische Verbot sofort am 8. März in Kraft tritt und
Großbritannien plant, die russischen Öleinfuhren bis Ende des Jahres
einzustellen. Beide Länder importieren im Verhältnis zu ihrem gesamten
Energiemix relativ wenig russisches Öl, sodass ihre Maßnahmen weitgehend
symbolisch erscheinen. Um ihre volle Wirkung zu entfalten, müssten sich
viele weitere Länder dem Embargo anschließen, vor allem die Europäer,
die in viel stärkerem Maße auf russische Lieferungen angewiesen sind.
In der Zwischenzeit scheuen sich jedoch große globale Ölabnehmer wie BP
und ENI, gegen ein Embargo zu verstoßen, und haben daher begonnen, sich
selbst zu sanktionieren. Die Seeexporte aus Russland in die OECD-Länder
wurden bereits um die Hälfte reduziert, während Ural-Rohöl mit einem
Abschlag von etwa 25 US-Dollar pro Barrel gegenüber Brent gehandelt
wird, verglichen mit nur 4 US-Dollar im Februar. Und der Preis für
Diesel, der für den gewerblichen Verkehr und den Maschinenbau
unerlässlich ist, spiegelt die tatsächliche Knappheit wider. Können die
europäischen Staaten Klarheit in eine verworrene und sich
verschlechternde Situation bringen?
Europa steht vor einer härteren Entscheidung als die USA und
Großbritannien. Die europäischen Länder, insbesondere Deutschland und
Italien, sind bei über 40 % ihres Erdgases und 30 % ihres Öls von
Russland abhängig. Diese Abhängigkeit gibt Russland ein Druckmittel in
die Hand, denn jede Maßnahme zur Unterbrechung der russischen Ölimporte
könnte auch zur Unterbrechung der russischen Gaslieferungen führen. Die
Europäische Union hat vor Kurzem einen Rahmenplan
veröffentlicht, der darauf abzielt, deutlich vor 2030 von russischen
Energielieferungen unabhängig zu werden und die EU-Nachfrage nach
russischem Gas bis Ende dieses Jahres um zwei Drittel zu senken. Die
Umsetzung dieser Maßnahmen wird jedoch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Nach Schätzungen des europäischen Think-Tanks EconPol würden sich die
kurzfristigen Kosten eines vollständigen Stopps der russischen
Energieimporte für Deutschland auf 3 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP)
belaufen. EconPol konnte jedoch größere wirtschaftliche Einbrüche und
Verwerfungen nicht ausschließen. RWE, der größte deutsche Stromerzeuger,
hat sogar vor „unvorstellbaren Folgen“ für die Wärmeversorgung der
Haushalte gewarnt. Es ist unmöglich, die Chancen eines konzertierten
europäischen Verbots für russisches Öl vorherzusagen. Geopolitische
Prognosen gehen derzeit von einer Wahrscheinlichkeit zwischen 30 % und
50 % aus, aber in dieser volatilen Situation können sich die Aussichten
von Tag zu Tag ändern.
Selbst im günstigsten Fall wäre es eine Herausforderung, Russlands
Anteil an der Weltversorgung zu ersetzen. Ein optimistisches Szenario
würde eine höhere Produktion aus US-Schiefergas sowie Öl aus
OPEC-Ländern und Ländern, die derzeit von US-Sanktionen betroffen sind,
wie Venezuela und Iran, beinhalten. Ein Großteil dieser höheren
Produktion würde jedoch weitere Investitionen und viel mehr Zeit
erfordern.
Ein völliger Ausfall der russischen Ölexporte wäre daher kurz- und
mittelfristig sehr schädlich für das globale BIP. Deutlich höhere Preise
würden zu einer Reduzierung der Nachfrage führen, um den Markt wieder
ins Gleichgewicht zu bringen. Verbraucher und Unternehmen müssten sparen
und die Nachfrage würde schrumpfen, bis schließlich wieder ein
ausreichendes Angebot zur Verfügung stünde und die Preise sinken
könnten. Erdöl macht nicht nur 5 % des weltweiten BIP aus, sondern ist
auch eine wichtige Triebkraft für die meisten Wirtschaftstätigkeiten.
Unsere Szenarioanalyse deutet darauf hin, dass die Ölpreise bei einer Verringerung der Nachfrage („Verschärfung“, Abbildung unten)
auf 200 US-Dollar pro Barrel steigen könnten. Dieses
Schlimmstfall-Szenario erhöht auch die Wahrscheinlichkeit russischer
Vergeltungsmaßnahmen gegen den Westen, die zu einer weiteren Eskalation
und zu menschlichem Leid und wirtschaftlichen Schäden führen könnten.
Ein Embargo würde für Russland mehrere Gefahren mit sich bringen. Der Energiesektor macht über 30 % des russischen BIP aus (75 % Öl/25 % Gas), und die Exporte machen 75–80 % der CO2-Emissionen aus. Es ist unwahrscheinlich, dass Russland in der Lage wäre, seine gesamten Ölexporte in „freundlichere“ Länder (vor allem China und Indien) umzuleiten. Da Russland nicht über genügend Lagerkapazitäten für ein langfristiges Embargo verfügt, müsste dieses überschüssige Öl letztlich stillgelegt werden, was zu dauerhaften Einnahmeverlusten (und weltweiten Kapazitätseinbußen) führen könnte, da die Kosten für die Wiederinbetriebnahme von Feldern in der unwirtlichen nördlichen Umgebung so hoch sind.
Natürlich ist es durchaus möglich, dass keine dieser schlimmen
Entwicklungen eintritt. Der Konflikt könnte beigelegt werden, und die
Ölpreise könnten wieder auf das Vorkriegsniveau sinken. Und jede
Vorhersage hat eine große Fehlertoleranz: Unvorhersehbare Ereignisse –
wie ein Wiederaufleben von COVID – können große Veränderungen im
Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage mit entsprechenden
Auswirkungen auf die Preise auslösen.
Der Konflikt ist eine Tragödie für die Menschen in der Ukraine und in
der Welt. Er dient auch als ein großer Weckruf für die demokratischen
Länder. Wir gehen davon aus, dass die Bedeutung der Energiesicherheit
neu bewertet und die Entwicklung neuer Energiequellen aller Art – sowohl
erneuerbare Energien als auch Öl und Gas – vorangetrieben wird. Die
Umstellung auf erneuerbare Energien sollte neben verstärkten
Investitionen in die Energieeffizienz beschleunigt werden.
Dieser entschlossene Ansatz wird mittelfristig auch weiterhin eine Rolle
für Erdöl – und auch für Erdgas – als emissionsärmerer Ersatz für
Kohle, dem umweltschädlichsten Brennstoff überhaupt, vorsehen. Die
europäischen Energieunternehmen werden jedoch ein klares Signal von den
Regierungen erwarten, dass neue Projekte einen notwendigen Beitrag zur
Versorgungssicherheit im Einklang mit der langfristigen Energiewende zur
Klimaneutralität darstellen.
In diesem Dokument zum Ausdruck gebrachte Meinungen stellen keine Analysen, Anlageberatungen oder Handelsempfehlungen dar, spiegeln nicht unbedingt die Ansichten aller Portfoliomanagementteams bei AB wider und können von Zeit zu Zeit überarbeitet werden. AllianceBernstein Limited ist von der Financial Conduct Authority in Großbritannien zugelassen und wird durch diese Behörde reguliert.
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