Anhaltende Haushaltsdefizite können teuer werden. Wir erläutern Ihnen die Lage in den verschiedenen Wirtschaftsräumen.
27.05.2024 | 07:10 Uhr
In letzter Zeit schienen die Anleger von den endlosen Schlagzeilen über die Entwicklung der Geldpolitik regelrecht gebannt zu sein. Fiskalpolitische Beschlüsse haben jedoch auf lange Sicht weitreichende Folgen für das Wachstum und die Fundamentaldaten der Wirtschaftsräume in aller Welt. In diesem Zusammenhang ringen viele Regionen immer noch mit den Herausforderungen durch Defizite und Schulden.
Die US-Wirtschaft hat in den letzten Jahren mit ihrer herausragenden
Entwicklung alle Erwartungen übertroffen. Die Triebkraft war
ungewöhnlicherweise die Fiskalpolitik. Ein typisches Merkmal von
Konjunkturzyklen sind hohe Haushaltsdefizite in wirtschaftlich
schlechten Zeiten, die entstehen, weil die Regierungen die Nachfrage
ankurbeln wollen, um schlimmere Folgen als eine Rezession zu vermeiden.
Nach der Rezession wird die Fiskalpolitik zurückgeschraubt, da die
Steuerannahmen steigen und die Soforthilfeprogramme auslaufen.
Der aktuelle Zyklus verlief in den USA bisher etwas anders.
Die demografische Entwicklung erfordert höhere Ausgaben für
Sozialleistungen, und die höheren Investitionen in die Infrastruktur und
andere pandemiebedingte Prioritäten führten dazu, dass die staatlichen
Gesamtausgaben über ihren Niveaus von vor der Pandemie blieben.
Gleichzeitig sind die Einnahmen aufgrund früherer Steuersenkungen
zurückgegangen. Das resultierende Defizit von rund 6% des
Bruttoinlandsprodukts (BIP) (s. Abbildung) scheint laut den
Prognosen des Congressional Budget Office (CBO) in den nächsten zehn
Jahren Bestand zu haben. Das Defizit ist demnach höher als man außer in
Kriegs- oder Rezessionszeiten erwarten würde.
Stützt das Defizit das Wachstum? Ja und nein.
Was die Wachstumsraten beeinflusst, ist eine schrittweise Veränderung
des Defizits; folglich hätte ein Defizit, das in den kommenden Jahren
stabil bleibt, keinen wesentlichen Einfluss auf das BIP-Wachstum.
Dennoch spielte der Umstand, dass die Staatsausgaben nicht
zurückgefahren wurden, eine Rolle für die erwartete sanfte Landung. Die
Landung wäre wohl weniger sanft gewesen und hätte vielleicht sogar eine
Rezession bedeutet, wenn die Fiskalpolitik so stark gestrafft worden
wäre, wie dies nach einer Rezession normalerweise der Fall ist. Das
durchschnittliche Haushaltsdefizit der USA liegt in „normalen“ Zeiten
bei rund 3,5% des BIP, also ungefähr 2,5% unter dem aktuellen Stand, und
hätte das Wachstum stärker gebremst.
Höhere Defizite haben zwar womöglich dazu beigetragen, das Wachstum zu
erhalten, aber sie haben einen Nachteil: steigende Schulden. Das
Verhältnis zwischen der US-Staatsverschuldung und dem BIP liegt
inzwischen bei über 100% und dürfte in den kommenden Jahren weiter
ansteigen, solange es keine wesentliche Veränderung der Fiskalpolitik
gibt. Die wird aus unserer Sicht kurzfristig zwar keine Krise
verursachen, aber die Kombination aus steigenden Schulden und steigenden
Zinsen wird die Schuldendienstquote – die Kosten der Tilgung
bestehender Schulden – des Staates in die Höhe treiben. Dieses Geld kann
dann nicht mehr für produktivere Investitionen verwendet werden, und
durch die fehlenden Mittel könnte der fiskalpolitische Spielraum
begrenzt sein, wenn die US-Wirtschaft das nächste Mal ins Straucheln
gerät.
Die europäische Fiskalpolitik half, den durch mehrere
aufeinanderfolgende Schocks ausgelösten Wirtschaftsabschwung zu
begrenzen, und führte zwischen 2020 und 2022 zu einem Anstieg des
Haushaltsdefizits auf durchschnittlich 5,3%. Es bestehen beträchtliche
Unterschiede: Italien und Frankreich weisen weiterhin hohe Defizite auf,
Spanien und Deutschland sind hingegen in einer nachhaltigeren Position.
Die Gesamtschuldenquote der Eurozone, die vor der Pandemie rückläufig
war, ist auf 88% gestiegen und wird Erwartungen zufolge hoch bleiben.
Gegenwärtig übertreffen sowohl das Haushaltsdefizit als auch die
Schuldenquoten die im Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) vorgesehenen
Obergrenzen von 3% bzw. 60%. Aber der fiskalische Impuls – die
Auswirkungen der Staatsausgaben und Steuerpolitiken auf das
Wirtschaftswachstum – war 2023 negativ und dürfte dies auch 2024
bleiben, da die Staaten weiterhin nach und nach alle Unterstützungen im
Energiebereich streichen. Außerdem ist der SWP, der 2020 ausgesetzt
wurde, damit die Mitgliedstaaten vorübergehend von der Obergrenze der
Neuverschuldung abweichen können, 2024 wieder in Kraft.
Eine der Folgen der Reaktivierung des SWP ist, dass Länder, die
beabsichtigen, 2025 die Obergrenze von 3% zu überschreiten, ein
sogenanntes „Verfahren bei einem übermäßigen Defizit“ (VÜD) riskieren,
das die kurzfristige Volatilität anheizen könnte. Der SWP soll aber die
Haushaltsdisziplin fördern, und Länder, die ein Defizitverfahren
auslösen, sind gezwungen, größere fiskalpolitische Anpassungen
umzusetzen. Diese Anpassungen werden jedoch weniger problematisch sein
als im Rahmen früherer Fassungen des SWP; sie berücksichtigen
landesspezifische Merkmale und erlauben somit mehr Flexibilität auf dem
Weg zur Erfüllung der Haushaltsziele.
Letzten Endes ist das Hauptziel des neuen SWP die
Haushaltskonsolidierung. Die Europäische Kommission geht davon aus, dass
das Defizit 2025 auf 2,8% des BIP sinkt; in Großbritannien könnte sich
ein ähnlicher Trend ergeben (s. Abbildung), auch wenn das Jahr
aufgrund der anstehenden Wahlen schwierig werden könnte. Wie in der EU
wird auch in Großbritannien der fiskalische Impuls negativ werden und
über mehrere Jahre hinweg im negativen Bereich bleiben. Die Regierung
muss sich ebenfalls an Haushaltsregeln halten und die Schulden- und
Defizitquote innerhalb von fünf Jahren senken, wobei erwartet wird, dass
beide Ziele erreicht werden.
Alles in allem scheinen die europäischen Volkswirtschaften zu einer
neuen Normalität übergegangen zu sein, die sich durch flexible
fiskalpolitische Disziplin auszeichnet.
Die Hauptthemen in den Schwellenländern waren in den letzten Jahren
die Überschuldung, verzögerte staatliche Insolvenzverfahren und die
Schuldenstreuung. Die Gesamtverschuldung der Staaten, ausgenommen China,
wird sich Erwartungen zufolge im Bereich der aktuellen Stände von knapp
60% des BIP stabilisieren, d. h. rund 7% über dem Vorpandemieniveau.
Afrika, Asien und Europa hatten Mühe, nach der Pandemie wieder zu einer
soliden Fiskalpolitik zurückzukehren, während die Staaten in
Lateinamerika und im Nahen Osten relativ erfolgreich neue
Haushaltspuffer aufbauen konnten.
Die fiskalpolitischen Fortschritte Lateinamerikas spiegeln eine
umsichtige Haushaltspolitik wieder, aber auch das starke
Wirtschaftswachstum, das zum Teil auf den Amerikanischen
Exzeptionalismus zurückgeht. Im Nahen Osten verbesserte sich die
Schuldendynamik vor allem dank der gestiegenen Ölpreise.
Volkswirtschaften, die stärker im US-Konjunkturzyklus integriert sind
(oder einen hohen Teil ihrer Einnahmen mit Erdöl erwirtschaften), waren
relativ erfolgreich bei der Schuldenkonsolidierung; stärkere
Verbindungen mit Europa und China zahlten sich in diesem
Konjunkturzyklus hingegen weniger aus.
Für die steigende Verschuldung Asiens war vor allem China
verantwortlich. Betrachtet man die Staatsverschuldung in ihrer
Gesamtheit einschließlich der Tätigkeiten von Finanzierungsvehikeln von
Lokalregierungen, staatlich gelenkten Fonds und Bau-Sonderfonds, ergibt
sich ein Anstieg der Verschuldung auf ungefähr 120% des BIP gegenüber
rund 50% vor zehn Jahren. Laut den Prognosen des Internationalen
Währungsfonds werden die chinesischen Staatsschulden in absehbarer Zeit
schneller steigen als diejenigen der USA.
Der Verzicht der beiden größten Volkswirtschaften der Welt auf
fiskalpolitische Einschränkungen könnte die Abwärtsrisiken für das
globale BIP-Wachstum begrenzen, aber ebenso zum „Crowding-out“ der
Finanzierung der Schwellenländer führen. Wenn weniger
Finanzierungsquellen bereitstehen und gleichzeitig der
Finanzierungsbedarf steigt, wären sogar noch mehr Haushaltseinsparungen
erforderlich (s. Abbildung).
Was könnte helfen, den Druck zu mindern? Es ist wichtig, bei Staatsbankrotten rasch Abhilfe zu schaffen, und auch die jüngsten finanziellen Unterstützungsmaßnahmen sowie die politischen Signale von multilateralen Organisationen könnten hilfreich sein. Die Berücksichtigung von auf Staaten bezogenen Faktoren für Schuldenumstrukturierungen und der erneute Marktzugang für Frontier-Märkte könnten die mittelfristigen Finanzierungskosten senken, falls die Ziele erreicht werden.
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