Der aktuelle Auftragsbestand deutscher Unternehmen im Verarbeitenden Gewerbe lastet die Produktion für etwa viereinhalb Monate aus - ein Rekordstand, der seit 1969 noch nie erreicht wurde. Einige Branchen, wie die Automobilindustrie oder der Maschinenbau sind mit den vorliegenden Aufträgen sogar mehr als ein halbes Jahr ausgelastet.
20.05.2022 | 12:10 Uhr
Trotzdem bleibt die Unternehmensstimmung vorerst gedämpft, denn die sich wieder verschärfenden Lieferkettenprobleme erlauben kein Hochfahren der Produktion. Im Zuge der jüngsten Quartalsberichtssaison deutscher und internationaler börsennotierter Unternehmen kamen Zweifel auf, ob die anhaltend hohen Kosten weiterhin an die Endverbraucher durchgereicht werden können, um die Margen weitgehend stabil zu halten. Wahrscheinlicher ist, dass die Gewinne einiger Unternehmen bei anhaltenden Problemen in den kommenden Monaten unter Druck geraten könnten.
Der größte Belastungsfaktor bleibt die ungewisse Entwicklung der wirtschaftlichen Situation in China. Immer mehr Lockdowns großer Millionenmetropolen sorgen für ausfallenden Konsum, ausgesetzte Produktion und verschärfte globale Lieferkettenprobleme. Entsprechend brachen zuletzt die Wachstumsraten für die Industrieproduktion, die Anlageinvestitionen und die Einzelhandelsumsätze in China drastisch ein, nachdem auch die letzten Veröffentlichungen von Einkaufsmanagerindizes eine Kontraktion der chinesischen Wirtschaft andeuteten. Ein negatives Wachstum der chinesischen Volkswirtschaft im zweiten Quartal wird damit immer wahrscheinlicher.
Nachdem trotz weiter steigender Corona-Neufallzahlen in China ein Ende des seit Wochen andauernden harten Lockdowns in Shanghai in Aussicht gestellt wurde, ist ein grundsätzlicher Strategiewechsel der chinesischen Regierung bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie nicht mehr unwahrscheinlich. Bevor die Wirtschaft weiter erheblichen Schaden nimmt, ist eine sukzessive Lockerung von Restriktionen wahrscheinlich, selbst wenn dadurch die Infektionsraten und die Sterblichkeit deutlich zunehmen dürften. Die globalen Lieferketten dürften in diesem Zuge eine Entlastung erfahren.
Gemäß einer jüngst veröffentlichten Studie der Bundesbank zu den Inflationserwartungen von Privatpersonen in Deutschland rechnen über 60 Prozent mit weiter deutlich zunehmenden Preissteigerungsraten in den kommenden zwölf Monaten. Auf Sicht von fünf Jahren wird demnach eine Inflationsrate in Höhe von etwa fünf Prozent erwartet. Offensichtlich verfestigen sich somit die Inflationserwartungen auf erhöhten Niveaus, was ein Gegensteuern durch die EZB in den kommenden Monaten erschwert.
Entsprechend werden auch die in Deutschland im weiteren Jahresverlauf anstehenden Tarifverhandlungen von deutlich steigenden Lohnforderungen begleitet werden. Zwar fielen die bisherigen Abschlüsse, bspw. für das Versicherungs- und Bankgewerbe oder für die Druckindustrie mit jährlichen Steigerungsraten zwischen 1,5 und 3 Prozent moderat aus. Bei den derzeit laufenden Verhandlungen für die Eisen- und Stahlindustrie beläuft sich die Forderung der IG Metall jedoch auf 8,2 Prozent mehr Lohn. Im Herbst folgen dann die Verhandlungen für die Metall- und Elektroindustrie mit etwa 3,8 Millionen Beschäftigten, für die angesichts derzeit sehr hoher Inflationsraten ebenfalls hohe Lohnforderungen gestellt werden dürften, denn die Zielsetzung der Gewerkschaften muss eine Steigerung des Reallohns der Beschäftigten sein. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht sind Reallohnsteigerungen wünschenswert, weil sie den privaten Konsum unterstützen.
Auch wenn keine mit den USA vergleichbare Lohn-/Preisspirale wahrscheinlich ist, zeigt sich doch, dass steigende Preise mittlerweile alle Bereiche der Wirtschaft erreicht haben und daher trotz eines wahrscheinlichen Überschreitens der Inflationsspitze in den kommenden Wochen anhaltend mit erhöhten Inflationsraten zu rechnen ist.
Für Anleger muss dieses Kapitalmarktumfeld mit Blick auf die kommenden Monate nicht schlecht sein. Trotz weiter steigender Nominalzinsen werden die Realrenditen voraussichtlich negativ bleiben und die Nachfrage nach realen Anlagen unterstützen. Sofern es zu keiner weiteren Eskalation im Zuge des Ukrainekrieges kommt, könnten sich einige der derzeit eingepreisten Risiken relativieren, bspw. im Falle einer Besserung der Lieferkettenprobleme oder weniger starker Zinssteigerungen in den USA, und dadurch die Perspektiven für die Weltwirtschaft wieder aufhellen. An den Börsen dürften diese möglichen Hoffnungsschimmer wie immer rechtzeitig Berücksichtigung finden und für steigende Kurse sorgen. Diese Möglichkeit sollten Anleger nicht aus dem Blick verlieren.
Ihr Carsten Mumm
1 d.h. zwei Quartale hintereinander mit negativen Wachstum
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