Sollte der neutrale Zinssatz nach dem Ende des EZB-Zinssenkungszyklus weit über dem Niveau vor der Pandemie liegen? Unserer Meinung nach nicht.
16.12.2024 | 06:43 Uhr
Während die Zentralbanken weltweit ihre Lockerungszyklen durchlaufen, fragen sich die Anleger, wo sich die Leitzinsen letztendlich einpendeln werden. Die richtige Antwort hängt von einer Schlüsselvariablen ab: dem „neutralen Zins“, der in wissenschaftlichen Studien als R* bezeichnet wird. Da die Geldpolitik mit einer langen und variablen Verzögerung arbeitet, können die politischen Entscheidungsträger R* nicht in Echtzeit beobachten. Stattdessen müssen sie ihn - angesichts der Herausforderungen und Unsicherheiten - schätzen. Ihr zentrales Problem besteht darin, festzustellen, ob die neutralen Zinssätze wieder auf das Niveau vor der Pandemie konvergieren werden oder ob der jüngste Inflationsausbruch R* in einigen oder allen Volkswirtschaften nach oben getrieben hat. Die Lösung? Wir sind der Meinung, dass die Europäische Zentralbank (EZB) sich auf die grundlegenden strukturellen Probleme konzentrieren sollte, die die Volkswirtschaften des Euroraums bestimmen, und dabei die jüngsten starken, aber vorübergehenden zyklischen Faktoren ausklammern sollte, die größtenteils durch die COVID-Pandemie und den Energieschock ausgelöst wurden.
Vor der Pandemie waren die akademischen Modelle eindeutig der Meinung, dass R* einen Abwärtstrend aufweist. Einige dieser Modelle deuten nun jedoch darauf hin, dass R* wieder ansteigen könnte.
Welches Modell ist am aussagekräftigsten? Unserer Meinung nach gibt es eine zuverlässige Richtlinie.
Wir halten es für wichtig, zwischen den strukturellen Faktoren, die R*
langfristig beeinflussen, und den vorübergehenden zyklischen Faktoren zu
unterscheiden. So zeigt beispielsweise eine aktuelle EZB-Studie,
dass mehrere zyklische Faktoren einen erheblichen Einfluss auf R*
haben, darunter die Pandemie selbst, die daraus resultierenden
Unterbrechungen der Lieferkette, der Energieschock nach der Invasion der
Ukraine und die Konjunkturpakete der Regierungen.
Diese Faktoren haben zwar zum jüngsten Anstieg des neutralen Zinssatzes
beigetragen, haben sich jedoch bereits umgekehrt oder sind dabei, sich
umzukehren, und werden daher unserer Ansicht nach wahrscheinlich keinen
weiteren Aufwärtsdruck ausüben. Wir glauben jedoch nicht, dass sich in
der Eurozone strukturell etwas geändert hat, was einen deutlich höheren
neutralen Zinssatz als vor der Pandemie rechtfertigen würde.
Wir gehen davon aus, dass die Eurozone bestenfalls zu den konjunkturellen Bedingungen vor der Pandemie zurückkehren wird.
Das reale BIP-Wachstum im Euroraum wird voraussichtlich auf dem Niveau
vor der Pandemie bleiben, sodass die Produktion auf absehbare Zeit
weiterhin hinter dem Potenzial zurückbleiben wird. Tatsächlich schätzen
wir, dass das Wachstumspotenzial der Eurozone bis 2028 wahrscheinlich
von 1,2 % auf unter 1 % sinken wird.
Ungünstige demografische Entwicklungen sind ein großer Teil der Wachstumsprobleme der Eurozone: Eine alternde Bevölkerung schränkt das Arbeitskräfteangebot ein. Während die Nettozuwanderung den Rückgang der Arbeitskräfte teilweise ausgleicht, ist die positive Auswirkung für Europa geringer als in den USA, und der Gesamttrend im Euroraum ist immer noch rückläufig.
Wie in den USA hat die expansive Fiskalpolitik in Europa den R*-Wert des
Euroraums in den letzten Jahren wahrscheinlich in die Höhe getrieben.
Mit Blick auf die Zukunft glauben wir jedoch, dass die europäischen
Länder weniger Spielraum für groß angelegte Ausgabenprogramme haben
werden und die positiven Auswirkungen auf R* nachlassen werden.
Der Markt preist aktuell einen Zins der EZB zwischen 1,8 % und 1,9 % ein
– ein angemessener Näherungswert für die Markteinschätzung des
neutralen Zinssatzes. Das liegt im Bereich der Schätzungen vor der
Pandemie, aber unserer Meinung nach zu nah an der Obergrenze und mit
Spielraum nach unten.
Da sich das Potenzialwachstum im Euroraum wahrscheinlich weiter
verlangsamen wird, die Fiskalpolitik stabil bleibt und die Inflation
sinkt, gehen wir davon aus, dass sowohl R* als auch der Endpunkt des
Lockerungszyklus der EZB niedriger sein werden als vom Markt aktuell
prognostiziert (siehe Abbildung).
Die in diesem Dokument zum Ausdruck gebrachte Meinungen stellen keine Recherchen, Anlageberatungen oder Handelsempfehlungen dar und spiegeln nicht notwendigerweise die Ansichten aller Portfoliomanagementteams bei AB wider. Die Einschätzungen können sich im Laufe der Zeit ändern.
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