BRIC: "Wachstumspessimismus übertrieben"

Titel der Publikation: Die politische Ökonomie von Strukturreformen in den BRIC-Ländern
Veröffentlichung: 05/2013
Autor: Markus Jaeger
Auftraggeber: DB Research (Website)
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Pessimistische Beobachter befürchten, dass die Wachstumsabschwächung der BRIC-Länder zum Großteil strukturell bedingt sein könnte. Diese Befürchtungen scheinen etwas übertrieben zu sein.

16.05.2013 | 14:52 Uhr

Wie die meisten anderen Volkswirtschaften der Welt verzeichneten auch die BRIC-Länder in den Jahren 2011/12 eine konjunkturelle Abschwächung. Pessimistische Beobachter befürchten, dass diese Wachstumsabschwächung zum Großteil strukturell bedingt sein könnte. Diese Befürchtungen scheinen etwas übertrieben zu sein.

Das letzte Jahrzehnt war ohne Zweifel durch ein hohes Weltwirtschaftswachstum gekennzeichnet – vor dem Hintergrund niedriger Zinsen, zunehmender internationaler Handelsströme, wachsender Kapitalzuströme in die Emerging Markets und steigender Rohstoffpreise. (Letztere kommen Ländern wie Brasilien und Russland zugute.) Der internationale Wachstumsausblick für die nächsten Jahre fällt im Vergleich dazu moderater aus.

China wird aller Voraussicht nach keine zweistelligen Wachstumsraten p.a. mehr verzeichnen können, nicht zuletzt, da die Regierung die Auffassung vertritt, dass ein Wachstum von 7-8% ausreichend ist, um die politische Stabilität aufrechtzuerhalten. Die konjunkturelle Expansionsrate Brasiliens ist weiterhin unterdurchschnittlich. Das indische und russische Wirtschaftswachstum haben den tiefsten Stand seit vielen Jahren erreicht (mit Ausnahme von 2008/09).

Trotzdem bleibt das Wachstumspotenzial der BRIC-Länder recht hoch. Alle BRIC-Länder profitieren von sehr hohem Aufholpotenzial und Spielraum, durch einen Anstieg des Kapitalbestandes und des Humankapitals die Produktivität zu erhöhen. Der erste Grund für Optimismus ist, dass die Ersparnisse nicht deutlich zurückgegangen sind und auf mittlere Sicht sogar ansteigen könnten. Die Leistungsbilanzposition ist gut (China, Russland) oder zumindest zu bewältigen (Brasilien, Indien). Das bedeutet, dass ein Anstieg der Investitionen nicht in hohem Maße durch einen Mangel an Ersparnissen beschränkt wird.

Am wichtigsten ist, dass die BRIC-Länder wirtschaftlich gut positioniert sind, um ihr Wachstumspotenzial durch Strukturreformen zu erschließen. Brasilien und Indien z.B. haben in der letzten Zeit einige Strukturreformen vorgenommen (u.a. weniger Restriktionen bzgl. ausländischen Direktinvestitionen in Indien, Konzessionsverkauf für Infrastrukturprojekte an Privatinvestoren in Brasilien). Man verlässt sich nicht hauptsächlich auf eine antizyklische, nachfrageorientierte makroökonomische Politik à la 2008/09, sondern zielt ebenfalls auf Strukturreformen ab, um die Produktivität und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Zugegebenermaßen ist keine der Reformen in Brasilien und Indien ein wirklicher Big Bang, mittelfristig sollten sie jedoch dazu beitragen, das Wachstum zu unterstützen. Es ist ermutigend, dass diese Maßnahmen die Erkenntnis der Regierungen widerspiegeln, dass angebotsseitige Reformen mindestens so notwendig sind wie eine nachfrageorientierte Politik, wenn hohes Wachstum sich längerfristig fortsetzen soll. Erhöhte Inflation hat sicher in beiden Ländern zu dieser Einsicht beigetragen.

China hat bisher weitgehend davon abgesehen, rigorose antizyklische Maßnahmen zu ergreifen und weitgehende Strukturreformen zu forcieren. Dies ist im Wesentlichen auf den Regierungswechsel sowie Befürchtungen längerfristiger, potenziell negativer Konsequenzen zurückzuführen, die weitere umfassende konjunkturstimulierende Maßnahmen für die bestehenden wirtschaftlichen Ungleichgewichte haben könnten. Technokratisch geprägte Gruppen haben jedoch schon einen Entwurf für eine weitere Reform des Finanzsektors vorgelegt, und Analysten erwarten eine Reihe weiterer Maßnahmen unter der neuen Regierung (z.B. sozialer Wohnungsbau, Infrastruktur). Die jüngste Veröffentlichung eines Plans, die Einkommen der Haushalte zu erhöhen, zeigt, dass sich die Regierung der Notwendigkeit bewusst ist, das Wachstumsmodell zu verbessern. Russland hat seit den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr einige Reformen eingeleitet; es wird jedoch abzuwarten sein, wie groß die Reformbereitschaft der neuen Regierung wirklich ist. Die wichtigste Maßnahme ist, dass die russische Regierung in den Jahren 2013 – 2015 Anlagevermögen des öffentlichen Sektors in Höhe von USD 45 Mrd. privatisieren will. Des Weiteren beabsichtigt die Regierung Infrastrukturinvestitionen, besonders im Fernen Osten, zu erhöhen.

Die jüngsten Reformen Brasiliens und Indiens mögen überraschend erscheinen. Die politisch-institutionellen Rahmenbedingungen für Reformen erscheinen relativ ungünstig – mehr noch in Indien als in Brasilien. Die Regierung von Premierminister Singh hat lange Zeit gekämpft, um die schwer zu kontrollierende parlamentarische Koalition zu überzeugen, Reformen zu unterstützen. Die Oppositionspartei BJP, die im Prinzip stärker geneigt ist, Reformen zuzustimmen, zeigte sich weniger reformbereit, als hätte erwartet werden können. Reformen sind mit dem Risiko verbunden, dass die Regierungskoalition destabilisiert werden könnte. Dies ist einer der Hauptgründe dafür, dass es über die oben erwähnten Maßnahmen hinaus in Indien keine umfänglicheren Reformen gegeben hat.

Im Gegensatz zu Indien ist die Exekutive in Brasilien nicht vom Kongress abhängig; der Präsident muss sich jedoch um Unterstützung im stark zersplitterten Kongress und der aus vielen Parteien bestehenden Präsidentschaftskoalition bemühen, um größere Reformen durchzusetzen. Die Regierung hat wenigstens einen großen Erfolg zu verzeichnen (Pensionsreform im öffentlichen Dienst). Sie hat ebenfalls eine Reihe anderer Maßnahmen vorgenommen, die darauf abzielen, das Wirtschaftswachstum wiederzubeleben (z.B. Steuersenkungen, Senkung der Stromtarife). Die letzteren Maßnahmen machten es nicht erforderlich für den Präsidenten, in hohem Maße politisches Kapital einzusetzen oder große Koalitionen im Kongress zu bilden, was vielleicht erklärt, warum sie ohne Komplikationen verabschiedet wurden.

In institutioneller Hinsicht sind die chinesische und die russische Regierung besser positioniert, Strukturreformen durchzusetzen als Brasilien und Indien, zumindest was die Legislative und  etwaigen gesellschaftlichen Widerstand zu solchen Reformen betrifft. In Russland hat die Präsidentschaft nicht nur sehr große Machtbefugnisse, gegenwärtig hat sie auch die Mehrheit in der Duma. In China herrscht die Exekutive unumschränkt, selbst wenn sie sich oft mit verschiedenen technokratischen und regionalen Fraktionen und gut vernetzten, seit Langem bestehenden Interessengruppen arrangieren muss, bevor ein ausreichend großer Konsens in Bezug auf politische Reformmaßnahmen erzielt werden kann. In dieser Hinsicht ist entscheidend, dass die chinesischen Regierungen (oder Führungseliten) typischerweise ein ganzes Jahrzehnt im Amt bleiben.

Letzteres ist von Bedeutung, da es Auswirkungen hat auf die Anreize, Strukturreformen durchzuführen. Dies ist wichtig, da die ökonomischen – und politischen – positiven Effekte, die auf Strukturreformen zurückgehen, typischerweise erst im Laufe der Zeit sichtbar werden, während die politischen Kosten, der Verlust an Wählerstimmen und der Verlust an politischer Legitimität, üblicherweise sofort eintreten. Die OECD kommt in einer kürzlich veröffentlichten Studie zu dem Ergebnis, dass Strukturreformen ihre vollständige Wirkung im Durchschnitt erst nach fünf Jahren entfalten. Dies korreliert fast genau mit dem Wahlzyklus in Demokratien. Es ist leicht nachvollziehbar, warum tiefgreifende Reformen relativ selten sind, es sei denn, ein Land befindet sich in einer schweren Krise – wie Indien 1991, Russland 1997 und Brasilien zu Beginn der 90er Jahre. Wenn Reformen tatsächlich vorgenommen werden, erfolgen sie fast immer zu Beginn der Amtszeit einer Regierung und werden häufig von speziellen Interessengruppen verwässert oder komplett von sogenannten Vetoakteuren blockiert. In Anbetracht der Tatsache, wie konzentriert die Kosten vieler Reformen sind und wie zeitlich versetzt die positive Wirkung eintritt (d.h. höheres Wachstum auf mittlere Sicht), ist es für organisierte Interessengruppen relativ leicht, Kräfte gegen Reformen und gegenüber der „schweigenden“ Mehrheit zu mobilisieren, die weniger als die Interessengruppen von Reformen profitieren würde.

Eine moderate, allmähliche Abschwächung des Wirtschaftswachstums lässt sich schwerer für die Mobilisierung politischer Unterstützung für Strukturreformen instrumentalisieren als eine gravierende wirtschaftliche oder finanzielle Krise. Deshalb mögen die Reformen in Brasilien und Indien etwas überraschend erscheinen. Aber nochmals: Die Reformen, die bis heute verabschiedet wurden, sind eben nicht diejenigen, die notwendig sind, um das Wirtschaftswachstum stark und nachhaltig  anzukurbeln. In rein politisch-institutioneller Hinsicht scheinen China und in geringerem Maße Russland besser positioniert, mittelfristige wachstumsbeschleunigende Reformen vorzunehmen als Brasilien und Indien – zumindest sobald die Regierung den Entschluss dazu fasst.

Kurz gesagt, wenn die Wachstumsabschwächung in den BRIC-Ländern ausgeprägter und anhaltender ausfiele als derzeit erwartet und stärker strukturell bedingt wäre als angenommen, wären wahrscheinlich besonders in China und Russland größere Reformanstrengungen zu erwarten. Der relative Reformmangel in China und Russland dürfte das Ergebnis der Einschätzung sein, dass das Wirtschaftswachstum weitgehend zufriedenstellend bleibt. (Diese Sichtweise ändert sich in Russland derzeit deutlich.) Es ist ermutigend, dass die brasilianische und die indische Regierung strukturelle Maßnahmen ergriffen haben – so geringfügig sie in den Augen von Kritikern auch sein mögen –, die darauf abzielen, das Wachstumspotenzial auf mittlere Sicht zu stärken, anstatt allein auf politisch weniger aufwändige Maßnahmen auf der Nachfrageseite zu setzen (obwohl Brasilien auch dies getan hat). Der Pessimismus, der zurzeit die Einschätzung von Beobachtern der BRIC-Länder durchzieht, scheint deshalb etwas übertrieben. All dies soll jedoch nicht bedeuten, dass die Durchsetzung von Strukturreformen politisch einfach sein wird. Die gute Nachricht ist, dass es in den BRIC-Ländern zumindest die Einsicht gibt – wenn auch in unterschiedlichem Maße –, dass solche Reformen notwendig sind. Sobald sich diese Reformbereitschaft durchgesetzt hat, wird es für China und Russland leichter sein, die Reformen umzusetzen als für Brasilien und Indien.

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