Brief von Edouard Carmignac

Edouard Carmignac greift zur Feder und kommentiert aktuelle wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Herausforderungen.

26.06.2024 | 11:14 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wieder einmal haben wir erlebt, dass der eigentliche Sinn der Europawahlen aktiv untergraben wird. Anstelle der echten Herausforderungen standen innenpolitische Themen im Vordergrund. Noch schlimmer ist aber, dass im Namen der nationalen Souveränität Ängste unter einer alternden Bevölkerung geschürt werden; dies ist Betrug am Wähler. Angesichts der Herausforderungen, die sich uns stellen, kann auf längere Sicht nur ein noch engerer Zusammenschluss unserer souveränen Staaten, die im Weltmaßstab zu regionalen Akteuren geworden sind, unsere Freiheiten garantieren.

Die Zeit drängt. Wo liegen die Herausforderungen?

Unsere Verteidigungsfähigkeit: Die Invasion in der Ukraine hat in drastischer Weise aufgedeckt, wie verwundbar wir sind. Wenn wir ohne die umfassende Hilfe der USA nicht in der Lage sind, einen Verbündeten direkt hinter unseren Grenzen wirkungsvoll zu unterstützen, sind wir auch nicht fähig, unsere eigenen Länder zu schützen, denn es fehlt vor allem an einer wirksamen Boden-Luft-Abwehr. Unsere Verteidigungsbudgets sind zu klein und werden darüber hinaus zu großen Teilen für den Kauf bei nichteuropäischen Anbietern (80 Prozent) eingesetzt. Außerdem entfallen 80 Prozent des US-Verteidigungshaushalts auf die fünf größten US-amerikanischen Rüstungsunternehmen, während es in Europa nur 45 Prozent sind. Neben einer Erhöhung müssen unsere Verteidigungsbudgets auch koordiniert und stärker auf modulare Ausrüstung sowie auf die europäische Produktion ausgerichtet werden.

Unsere Wettbewerbsfähigkeit: Wir setzen seit Jahren auf eine selbstmörderische Strategie, die gleichzeitig eine Senkung der Lohnkosten und eine Erhöhung der Kaufkraft durch Konjunkturprogramme ohne nachhaltige Wirkung anstrebt. Das Ergebnis besteht in einem geringen Privatverbrauch und einem geschwächten Sozialmodell. Stattdessen benötigen wir eine Industriepolitik, die darauf abzielt, unseren zunehmenden Rückstand bei Zukunftstechnologien wie der Künstlichen Intelligenz und den Biotechnologien zu verringern. Dies gilt umso mehr, da derzeit von den fünfzig größten Technologiekonzernen weltweit nur noch vier aus Europa kommen.

Unsere Steuerung der Migrationsströme: Wenn diese Ströme nicht beherrscht werden, ist dies fatal für den sozialen Zusammenhalt in allen Ländern Europas. Zugleich liegt hierin eine Ursache für die Abschottung, die bei der Europawahl so deutlich zum Ausdruck kam. Nur eine strenge Immigrationspolitik, die von allen EU-Mitgliedstaaten praktiziert wird, kann hier Abhilfe schaffen. Gleichwohl muss diese Politik mit Augenmaß umgesetzt werden, denn drei Viertel der europäischen Unternehmen klagen über Schwierigkeiten bei der Suche nach Fachkräften.

Grünes Wachstum: Das Fiasko, zu dem unser umweltpolitischer Kurs geführt hat, ist traurig anzusehen. Unter dem Druck von umweltbewussten Politikern, die es gut meinen, aber ohne Verstand vorgehen, stammen die Lieferungen im Bereich der erneuerbaren Energien zu einem erheblichen Teil aus China. Würde man die Ziele im Bereich der E-Mobilität präzise umsetzen, hätten Autos aus chinesischer Produktion bis 2030 einen Anteil von 60 Prozent! Darüber hinaus fehlt es in Europa an Steueranreizen – ganz im Gegensatz zu den USA, deren „Inflation Reduction Act“ europäische Unternehmen dazu veranlasst, eher im Ausland zu investieren. Notwendig sind grüne Konjunkturprogramme vor Ort und Schutzmaßnahmen für unsere Industrie, indem Einfuhren, die nicht unseren Umweltnormen genügen, mit Zöllen belegt werden.

Dies ist ein ehrgeiziges und schwer umsetzbares Vorhaben; insbesondere in der aktuellen Situation, in der die politische Führung Europas durch das Auseinanderdriften des bisherigen deutsch-französischen Tandems auf eine harte Probe gestellt wird. Daher benötigen wir unbedingt eine Person an der Spitze der Europäischen Kommission, deren intellektuelle Autorität und Verhandlungsgeschick außer Frage stehen. Mario Draghi verhinderte im Juli 2012 durch sein inzwischen historisches „Whatever it takes“ den Zusammenbruch der Eurozone.

Mit inspirierenden Projekten zur Überwindung der oft vergangenheitsbedingten Differenzen zwischen unseren Nationalstaaten, könnte er der europäischen Einigung neuen Schwung verleihen.

Edouard Carmignac

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