Capital Group: Diversifikation von Lieferketten - Wer profitiert davon?
Während der Corona-Krise sind wichtige Teile der globalen Lieferketten zusammengebrochen. Das führte zu Engpässen in allen Bereichen, von medizinischem Bedarf und Ausrüstung bis hin zu Möbeln und Autoteilen.02.03.2023 | 09:29 Uhr
Auch die Spannungen zwischen den USA und China sowie die Invasion Russlands in die Ukraine machen deutlich, wie riskant es ist, sich bei kritischen Versorgungsgütern, wie Energie, Lebensmittel und Computerchips, auf nur einen Lieferanten zu verlassen. Laut Christophe Braun, Equity Investment Director bei Capital Group, haben viele Unternehmen daraus gelernt und wollen ihre Lieferketten jetzt stärker diversifizieren. So würden manche ihre Fertigung wieder in das Inland oder in andere Länder verlagern. China könne als größte Fertigungsbasis der Welt zwar kaum verdrängt werden, viele Unternehmen würden sich jetzt aber nach neuen zusätzlichen Standorten umsehen. Aus Sicht von Braun gibt es vier Bereiche, die in den kommenden Jahren von dieser Diversifikation der Lieferketten profitieren könnten:
Profiteur Nr. 1: Indien
Braun sieht Indien dank der Nähe zu China, den gut ausgebildeten Arbeitskräften und einer schnell wachsenden, unternehmensfreundlichen Wirtschaft am besten positioniert dafür, um von einer Diversifikation der Lieferketten zu profitieren. Die indische Regierung habe mutige Schritte unternommen, um den Ausbau der Produktionsstätten zu fördern, insbesondere im Smartphone-Bereich, wo beispielsweise Apple mit Auftragnehmern wie Foxconn zusammenarbeitet, um die neuesten iPhones zu bauen. Er erwartet, dass sich der Fertigungssektor im nächsten Jahrzehnt beschleunigen wird, was das Wachstum der indischen Wirtschaft antreiben und andere Branchen wie Banken, Energie und Telekommunikation ankurbeln dürfte. „Indien dürfte heute besser positioniert sein als China vor 20 Jahren“, sagt Braun.
Profiteur Nr. 2: Mexiko
Ähnlich wie Indien ist laut Christophe Braun Mexiko aufgrund seiner Nähe zu einer der größten Volkswirtschaften der Welt ein attraktiver Standort für die Erweiterung von Produktion und Logistik. Viele US-Unternehmen seien in den 1990er-Jahren nach der Verabschiedung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) in das Land geströmt. Im Zuge des 2020 von den USA, Kanada und Mexiko ratifizierten Nachfolgeabkommens USMCA habe sich dieser Prozess weiter beschleunigt.
Die jährlichen Exporte Mexikos in die USA seien in den letzten Jahren stark gestiegen. Obwohl ein Großteil davon auf den Einfluss von US-Unternehmen zurückzuführen sei, stocke auch China seine Präsenz in Mexiko auf. So baue beispielsweise die Hisense Group, einer der größten chinesischen Gerätehersteller, derzeit in Monterrey einen 260 Millionen US-Dollar schweren Industriepark, in dem Kühlschränke, Waschmaschinen und Klimaanlagen für den US-Markt hergestellt werden sollen. Im Automobilsektor hätten BMW und Nissan in letzter Zeit ebenfalls ihre Kapazitäten südlich der US-Grenze erweitert.
Profiteur Nr. 3: Automatisierungsanbieter
Braun ist überzeugt, dass eine der größten Hürden bei der Diversifikation der weltweiten Fertigungskapazitäten ein chronischer Arbeitskräftemangel, insbesondere in den Industrieländern, ist. „Die auf künstlicher Intelligenz basierende Automatisierung dürfte aber eine Antwort auf dieses Problem geben“, sagt der Anlageexperte. Viele asiatische Länder würden mit ihrem hohen Maß an industrieller Automatisierung hier den Trend vorgeben, und die USA und Europa würden voraussichtlich folgen. Beide Regionen hätten Raum für Wachstum, was Top-Unternehmen in der globalen Roboterindustrie positive Aussichten beschere, darunter Keyence in Japan, Schneider Electric in Frankreich und ABB Ltd. in der Schweiz.
Darüber hinaus entwickele Amazon seine eigene beeindruckende KI-Technologie. „Amazon verfügt über ein neues robotergestütztes Kommissionier- und Verpackungsgerät namens Sparrow, das mehr als 60 Millionen verschiedene Produkte aufnehmen und in Versandkartons verpacken kann. So wird jede Kommissionierung innerhalb weniger Sekunden erledigt“, sagt Christophe Braun. Vor nur sieben Jahren hätten die experimentellen Roboter von Amazon nur eine kleine Anzahl von Artikeln handhaben können, und jede Entnahme hätte ein paar Minuten gedauert. Braun glaubt, diese Technologie komme schneller voran als viele denken, und ihr Wert spiegele sich noch nicht in den Aktienkursen der großen amerikanischen und europäischen Unternehmen.
Profiteur Nr. 4: Multinationale Konzerne
Obwohl es eher widersprüchlich erscheine, seien die multinationalen Unternehmen, die in der Vergangenheit am meisten vom rasanten Tempo der Globalisierung profitiert hätten, möglicherweise am besten für eine Zeit der Re-Globalisierung gewappnet, so Braun. Die größten und marktbeherrschenden Unternehmen der Welt hätten diese Position aus einem bestimmten Grund erreicht: Sie würden oft über die Erfahrung und die Ressourcen verfügen, um sich besser an sich wandelnde Handelsmuster anpassen zu können als kleinere Unternehmen, die nur in einzelnen Märkten tätig sind.
Gut geführte, multinationale Unternehmen würden ihre internationalen Produktionsstätten und ihre internationale Kundenbasis beibehalten, sie würden jedoch zunehmend lokale Redundanzen in ihren operativen Betrieb integrieren. Braun spricht dabei von „Multi-Lokalisierung“. Dazu gehöre, dass einige Teile der Lieferkette wieder zurück in die USA verlagert, andere Teile weiterhin ausgelagert und neue Produktionsstätten in Schlüsselbereichen auf der ganzen Welt errichtet werden.
„Wenn wir eines aus der Corona-Krise gelernt haben, dann das: Unternehmen müssen über vielfältige Lieferketten verfügen. Das ist noch nicht der Fall, aber der Prozess ist in vollem Gange“, sagt Christophe Braun.