Capital Group: Stellt die Pandemie eine Gefahr für die Zukunft der amerikanischen Großstädte dar?

Man könnte meinen, dass es für die wirtschaftliche Lage der USA nicht von Bedeutung ist, wo ein US-Bürger sich morgens seinen Kaffee kauft. Tatsächlich aber könnte dies in den kommenden Jahren erheblich an Bedeutung gewinnen.

30.09.2021 | 07:10 Uhr

„Da ich in den letzten anderthalb Jahren mobil gearbeitet habe, hole ich mir meinen Kaffee jetzt in der Nähe meines Wohnortes, und nicht mehr wie früher in einem Café in der Innenstadt“, erklärt Jared Franz, Ökonom bei der Capital Group. „In meinem Fall mag das keine große Rolle spielen, aber wenn ein Viertel der Erwerbstätigen in den USA dies ein oder zwei Mal die Woche so handhabt, hat das erhebliche Auswirkungen auf die Wirtschaft, die Finanzmärkte und die Zukunft der Großstädte.“

Auch wenn die Daten nur einen kurzen Zeitraum abdecken und ein endgültiges Ergebnis noch aussteht, gibt es bereits erste Anzeichen für einen starken Trend zur Entstädterung in den Vereinigten Staaten und anderen großen Industrienationen. Seit dem Beginn der COVID-19-Pandemie hat sich die Abwanderung aus einigen Großstädten beschleunigt, während die Immobilienpreise in den Vorstädten in die Höhe geschossen sind. Außerdem zeigen landesweite Umfragen unter den Erwerbstätigen in den USA, dass die überwältigende Mehrheit der Arbeitnehmer, die bereits von zu Hause aus arbeiten, dies auch künftig an einem oder mehreren Tagen in der Woche so handhaben möchten.

Jared Franz schätzt, dass bis 2022 etwa 25 % der Erwerbstätigen in den USA mobil arbeiten könnten – vor der Pandemie waren es nur 5 % –, und viele von ihnen werden sich dafür entscheiden, in günstigeren und bevölkerungsärmeren Regionen zu leben. Wenn diese Entwicklung anhält, wäre dies die größte Veränderung in der Erwerbsstruktur der USA seit dem Zweiten Weltkrieg.

„Aus Sicht der Anleger müssen wir ermitteln, wie beständig diese Veränderungen sind, wie sie sich auf das Konsumverhalten auswirken könnten und wie die Unternehmen wohl darauf reagieren werden“, erklärt Jared Franz. „Was passiert zum Beispiel mit dem Café in der Innenstadt? Oder den Restaurants in der Nähe? Oder den nicht mehr benötigten Büroräumen?“

„Ich glaube nicht, dass wir von einem Aussterben der Großstädte sprechen“, betont Jared Franz. „Allerdings glaube ich, dass wir in Ballungszentren wie Chicago, Los Angeles, New York und San Francisco inzwischen den Grenzwert für die Bevölkerungsdichte erreicht haben könnten. Sie werden sich an eine Welt anpassen müssen, in der ein Großteil der Beschäftigten nicht mehr jeden Tag ins Büro geht. 25 Prozent erscheint vielleicht nicht viel, aber im Vergleich zu den bisherigen 5 Prozent ist das eine enorme Veränderung.

Viele wichtige Fragen bleiben unbeantwortet: Werden die Menschen in die Großstädte zurückkehren, wenn die Pandemie vorüber ist? Werden sie ein Leben in den Vorstädten und anderen Außenbezirken vorziehen? Oder wird gar beides gleichzeitig passieren – vielleicht mit jüngeren Beschäftigten, die es vorziehen, in lebendigen, dynamischen Städten zu leben, und älteren Beschäftigten, die das Wachstum in den Vorstädten weiter vorantreiben?

Eine entscheidende Frage scheint immerhin geklärt zu sein: Die Menschen arbeiten gerne von zu Hause aus.

Untersuchungen des US National Bureau of Economic Research zeigen, dass Arbeitnehmer, die von zu Hause aus arbeiten können, dies auch weiterhin tun wollen. Mehr als 77 % der Befragten gaben an, dass sie mindestens einen Tag in der Woche mobil arbeiten möchten, und 31 % gaben an, dass sie am liebsten an allen fünf Tagen in der Woche im Homeoffice arbeiten würden. Natürlich können nicht alle Aufgaben aus der Ferne erledigt werden, aber 64 % der Befragten gaben an, dass ihr Arbeitsplatz zumindest teilweise die Arbeit von zu Hause aus zulässt.

Es ist allerdings wichtig anzumerken, dass nicht jeder mit dem Phänomen Homeoffice einverstanden ist. In den letzten Monaten gab es eine leichte Kehrtwende von einigen Unternehmen, die auf traditionellere Arbeitszeiten drängten. Auch die Möglichkeit, die Löhne von Arbeitnehmern zu senken, die aus teuren Städten in preislich attraktivere Gebiete ziehen, wurde diskutiert. Im Moment sieht es aber nicht so aus, als ob die Unternehmen in diesen Bereichen viel erreichen könnten.

Eine große Investmentbank warf kürzlich die Frage auf, ob wir den Höhepunkt der Fernarbeit bereits überschritten haben, und nannte dabei Bedenken hinsichtlich der Isolation und der psychischen Gesundheit der Mitarbeiter, des Verlusts der Unternehmenskultur, des Erhalts der Geschäfte in den Innenstädten und der wachsenden Gefahr von Cyberangriffen.

Sektoren, die von der Deurbanisierung profitieren

Viele Sektoren werden – insbesondere in den Vorstädten und anderen Außenbezirken – davon profitieren, wenn der Trend zur Entstädterung anhält, darunter Reise- und Freizeitaktivitäten, Technologie und Kommunikation, Cloud Computing, der Heimwerkermarkt und Wohnimmobilien.

Veränderungen im Verbraucherverhalten bedeuten, dass diese Trends auch dann anhalten könnten, wenn wir wieder an mehreren Tage in der Woche ins Büro gehen. So haben beispielsweise Baumärkte wie Home Depot eindeutig davon profitiert, dass mehr Menschen in Neubauten investiert und Bestandsimmobilien in den Vorstädten gekauft haben, während die Entwicklung zu mehr Fitness in den eigenen vier Wänden auch Unternehmen wie Peloton und Nike einen Aufschwung bescherte.

Bewegung und Aktivitäten im Freien sind ein möglicher Lichtblick, sagt Lisa Thompson, Portfoliomanagerin der Capital Group. „Als Anlagethema ist es meiner Meinung nach fast schon eine Metapher. Die Menschen verbringen mehr Zeit in der Natur, wandern oder fahren Fahrrad, und sie stellen fest, dass es eigentlich sehr schön ist, draußen zu sein, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen und die Nationalparks zu besuchen. Einige meiner Freunde haben das Camping für sich entdeckt. Dabei waren sie früher dafür nie zu begeistern.“

Sektoren, die unter der Entstädterung leiden

Auf der anderen Seite leidet der gewerbliche Immobiliensektor mit am stärksten, und die Aussichten bleiben gelinde gesagt schwierig. Im zweiten Quartal 2021 stiegen die Büroleerstandsquoten in den USA auf über 17 %, verglichen mit rund 13 % im ersten Quartal 2020, noch bevor die Wirtschaft durch die von der Regierung verhängten Lockdowns praktisch zum Stillstand kam.

Bei den gewerblichen Immobilienkrediten kam es hingegen nicht zu den von den Anlegern erwarteten Notlagen oder Totalausfällen, was vor allem auf die staatlichen Konjunkturprogramme zurückzuführen ist, die kleinen und mittleren Unternehmen dabei halfen, ihren Zahlungsverpflichtungen bei Mieten und Gehältern nachzukommen. „Momentan befinden wir uns in einem Wartezustand, da die staatliche Unterstützung sehr groß war“, so Jared Franz. „Für 2022 gehe ich jedoch von einer erheblichen Verschlechterung aus.“

In der gesamten Immobilienbranche gab es große Unterschiede zwischen den Teilsektoren, die in Mitleidenschaft gezogen wurden – z. B. Büro, Einzelhandel und Hotels – und anderen, die sich im Rahmen der Erholung der Wirtschaft und der Aktienmärkte positiv entwickelt haben. Dies betrifft zum Beispiel die Lagerhaltung sowie den Industrie- und Wohnsektor.

In US-Bundesstaaten mit großen Ballungszentren könnten auch die staatlichen und kommunalen Finanzmittel betroffen sein, fügt Lisa Thompson hinzu.

„Die Deurbanisierung setzt Staaten wie New York und Kalifornien stark unter Druck, weil sie sich auf eine sehr hohe Besteuerungsgrundlage für wohlhabende Menschen in Manhattan, Los Angeles und San Francisco verlassen haben“, stellt Thompson fest. „Das könnte zu einer großen Herausforderung für die Staaten werden, die vom Konzept der Megastädte enorm profitiert haben.“

Lisa Thompson schließt sich der Meinung von Jared Franz an und geht davon aus, dass sich die großen Ballungszentren anpassen und schließlich auch in einer Zeit nach COVID florieren werden. Großstädte sind widerstandsfähig, sagt sie, und die Geschichte zeigt, dass sie auch schwierige Zeiten immer wieder gut überstanden haben.

„Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass die Menschen in den 1970er und 1980er Jahren die Großstädte gemieden haben“, erinnert sich Lisa Thompson. „Heutzutage sind ältere Menschen häufig der Meinung, dass sie „nicht mehr in der Stadt leben müssen“, doch ich glaube, dass vor allem jüngere Menschen im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens und der Unterhaltung mitmischen wollen. Die Städte werden sich einfach wieder neu erfinden.“

Jared Franz ist Ökonom mit 15 Jahren Branchenerfahrung. Er hat an der University of Illinois in Chicago in Wirtschaftswissenschaften promoviert und einen Bachelorabschluss in Mathematik an der Northwestern University erworben.

Lisa Thompson ist eine Aktienportfoliomanagerin mit 30 Jahren Anlageerfahrung. Sie hat einen Bachelor-Abschluss in Mathematik der University of Pennsylvania und ist als CFA zugelassen.

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