Chinas steigende Lohnkosten: Motor des Strukturwandels?

Titel der Publikation: Chinas steigende Lohnkosten: Motor des Strukturwandels?
Veröffentlichung: 03/13
Autor: Hannah Levinger
Auftraggeber: DB Research (Website)
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Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung schüren steigende Löhne und nachlassendes Wachstum der Arbeitsproduktivität zunehmend die Sorge, dass sich Chinas Wettbewerbsfähigkeit allmählich erschöpfe, insbesondere in der verarbeitenden Industrie.

11.03.2013 | 15:45 Uhr

In der Tat zeichnet sich vor allem im Niedriglohnsektor ein struktureller Wandel ab, der eine Verschiebung entlang der Wertschöpfungskette sowie über die Provinzen Chinas hinweg nahelegt. Im Hinblick auf Chinas angestrebten Übergang zu einem neuen Wachstumsmodell ist diese veränderte Dynamik auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich positiv zu beurteilen.

Chinas erwerbsfähige Bevölkerung schrumpfte im Jahr 2012 um fast 3,5 Millionen, wenn man die chinesische Definition, die15-59-Jährigen, zugrunde legt. In drastischer Art und Weise zeigt die demografische Entwicklung die Grenzen des Modells auf, das die chinesische Wirtschaft über drei Jahrzehnte maßgeblich getragen hat. Strukturelle Veränderungen am Arbeitsmarkt sind bereits seit einigen Jahren spürbar: Die Löhne in der Industrie stiegen deutlich an, während sich die Arbeitsproduktivität gleichzeitig abschwächte. Manche Beobachter und Investoren werten diese Entwicklung als eine ernsthafte Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit Chinas.

Die Reallöhne im verarbeitenden Gewerbe sind seit dem Beitritt Chinas zur WTO im Jahr 2001 tatsächlich um ca. 200% auf USD-Basis gestiegen. In diesem Zeitraum wuchs das Lohnniveau Chinas über das Thailands hinaus und schloss zu den Philippinen auf. Selbst im Zuge des globalen Konjunkturrückgangs legten Chinas Löhne weiter kräftig zu, während sie in anderen Ländern der Region 2009 bis 2011 die dämpfende Wirkung des Wirtschaftseinbruchs zu spüren bekamen.

Noch bis vor Kurzem gingen die Lohnerhöhungen Chinas mit raschen Steigerungen der Arbeitsproduktivität einher. Arbeitskräfte, die aus dem Agrarsektor in die Industrie abwanderten, trugen dort zu Produktivitätsgewinnen bei. Somit erlebte China bei der realen Wirtschaftsleistung je Arbeitskraft innerhalb von zehn Jahren einen enormen Anstieg, der Indonesien und die Philippinen weit hinter sich ließ. Gleichzeitig liegt China bei der Arbeitsproduktivität noch knapp hinter Thailand sowie hinter Malaysia und mit deutlichem Abstand hinter Südkorea. Hinzu kommt, dass sich Chinas Arbeitsproduktivität seit ein paar Jahren erheblich schwächer entwickelt; im Jahr 2012 war der Produktivitätsgewinn so gering wie zuletzt 1999, übertraf aber dennoch den sämtlicher Länder Asiens. Größeren Anlass zur Sorge bereitet die Tatsache, dass auch bei der gesamten Faktorproduktivität, die unter anderem Effizienzsteigerungen etwa bei Fachkompetenz und Technologieverbreitung beinhaltet, nachlassendes Wachstum zu beobachten war. Diese Entwicklungen haben die chinesischen Lohnstückkosten – das Verhältnis zwischen Löhnen und Arbeitsproduktivität pro Beschäftigtem - in den letzten zwei Jahren in die Höhe getrieben, und zwar in stärkerem Maße als in den ASEAN-Ländern.

Doch der allmähliche Verlust an Wettbewerbsfähigkeit birgt allem Anschein zum Trotz eine Chance, Chinas Strukturwandel Schwung zu verleihen. Steigende Lohnstückkosten könnten maßgeblich zur Neuausrichtung von Chinas Wachstumsmodell beitragen. Drei strukturelle Trends sind derzeit beobachtbar, die diesem Ziel zuträglich sein dürften. Erstens stellen sich auf dem chinesischen Arbeitsmarkt häufiger Engpässe ein, da sich der Zustrom an Arbeitskräften aus dem Agrarsektor verringert und – was noch wichtiger ist – die zunehmende Fragmentierung und Spezialisierung im Produktionsprozess verstärkt fachbezogene Fähigkeiten voraussetzt. Zudem werden Arbeitsplätze heute oftmals im Binnenland, näher am Heimatort von Wanderarbeitern, geschaffen, da viele Firmen Standorte bewusst verlagert haben. Im Jahr 2011 fanden mehr als die Hälfte aller Wanderarbeiter einen Job in ihrer Heimatprovinz, während sich die Arbeitsmigration in die traditionellen Zielprovinzen an der Küste abschwächte. Über die Lohnkostendifferenzen hinaus dürfte die geografische Nähe zu Konsumenten im Binnenland bei Standortentscheidungen in absehbarer Zeit noch an Bedeutung gewinnen - mit Blick auf die Aussicht auf höhere Einkommen und die Belebung des Konsums in den inländischen Städten. Zweitens steckt im noch stark unterentwickelten Dienstleistungssektor das Potenzial, wesentlich zur Schaffung von Arbeitsplätzen beizutragen. Derzeit stellt der Dienstleistungssektor den größten Anteil der Beschäftigten, trägt allerdings weniger als die Hälfte zum BIP-Wachstum bei. Drittens ist der zuletzt beobachtete Anstieg der Lohnstückkosten ausgeprägter, je höher der Grad der Arbeitsintensivität der jeweiligen Industrie ist. Von dieser Entwicklung profitieren aufgrund der engeren Einbindung in Chinas Lieferkette vor allem die ASEAN-Länder – doch auch deren Nutzen sind Grenzen gesetzt. So stiegen beispielsweise in Vietnam die Reallöhne im verarbeitenden Gewerbe zwischen 2006 und 2011 um durchschnittlich 9,7% und zogen damit fast so schnell an wie in China. Gleichzeitig stagnierte Vietnams Arbeitsproduktivität bei nur 26% des chinesischen Niveaus über denselben Zeitraum. Andere Volkswirtschaften, wie z.B. Indonesien und Thailand, haben, ähnlich wie China, die Mindestlöhne flächendeckend oder in bedeutenden Industriezweigen deutlich angehoben.

Diese strukturellen Veränderungen können durch den schnellen Blick auf Chinas schwindenden Kostenvorteil zuweilen in den Hintergrund gedrängt werden. Dass die Löhne in China steigen werden, steht außer Frage – nicht zuletzt, da sie integraler Bestandteil der politischen Agenda sind –, aber Verbesserungen der Effizienz können diesen Umstand zumindest teilweise kompensieren. Chinas Arbeitsmarkt kann auch weiterhin zum Wirtschaftswachstum beitragen, wenn Urbanisierung und Reformen des staatlichen Meldewesens (Hukou) entsprechend genutzt werden, um den Einsatz qualifizierter Arbeitskräfte mit dem Übergang zu einer höheren Wertschöpfung zu vereinbaren.

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