Columbia Threadneedle: Die Inflation lässt nach – deutliche Zinssenkungen 2024?
Die Inflation in allen großen Volkswirtschaften ist gesunken und die Zentralbanken haben die Zinserhöhungen auch weiterhin ausgesetzt – obwohl die Kerninflation immer noch über dem Zwei‑Prozent‑Ziel liegt.14.11.2023 | 09:34 Uhr
Wie sich die Arbeitslosenzahlen entwickeln werden, ob und wann es zu einer Rezession in der Eurozone und den USA kommt und warum die Zentralbanken die Zinsen im Jahr 2024 wieder senken dürften, schreibt Steven Bell, Chefvolkswirt EMEA bei Columbia Threadneedle, in seinem Marktkommentar:
- Die Inflation in allen großen Volkswirtschaften ist gesunken und die Zentralbanken konnten ihre Politik unverändert lassen.
- Die Kerninflation liegt jedoch nach wie vor deutlich über dem Zielwert von zwei Prozent, und es ist ungewiss, ob sich der Abwärtstrend fortsetzen wird.
- Das Vereinigte Königreich hinkt im Hinblick auf den Trend zur sinkenden Inflation anderen Ländern hinterher. Wir gehen allerdings davon aus, dass die künftigen Zahlen einen deutlich geringeren Abstand zeigen werden.
- Die Arbeitslosenzahlen dürften in den kommenden Monaten steigen – in den USA könnte unserer Ansicht nach Anfang 2024 die Sahm-Regel eintreten.
- Die nachlassende Lohninflation ist ein gutes Zeichen für die Kerninflation im Vereinigten Königreich. Auch in der Eurozone dürfte die Arbeitslosigkeit demnächst zunehmen.
- Der Trend zu niedrigeren Zinssätzen scheint sich für die wichtigsten Zentralbanken deutlicher abzuzeichnen. Das ist eine gute Nachricht für Anleihen und Aktien.
Im Vergleich zu den hohen Werten im Frühjahr ist die Inflation in allen wichtigeren Ländern zurückgegangen. Auch die Kerninflation hat sich abgeschwächt – und das alles ohne Rezession. Infolgedessen haben die großen Zentralbanken ihre Politik auf Eis gelegt und damit ihre aggressive Strategie der Zinserhöhungen beendet – oder zumindest eine Pause eingelegt. Das ist die gute Nachricht. Das Problem: Die Kerninflation ist nach wie vor deutlich über den Zielvorgaben der Zentralbanken, und sie wissen auch nicht, ob der jüngste Abwärtstrend anhalten wird. Allerdings erleichtert die nach wie vor angespannte Lage auf den Arbeitsmärkten ihr Dilemma: Die Arbeitslosigkeit liegt im Allgemeinen auf oder nahe am Rekordtief.
Nachzügler Vereinigtes Königreich
Das Vereinigte Königreich ist im Rennen um die Disinflation ein deutlicher Nachzügler. Der Abstand dürfte sich in dieser Woche jedoch deutlich verringern: Die britische Gesamtinflation wird voraussichtlich von 6,7 Prozent auf 4,7 Prozent sinken. Die Kerninflation dürfte ebenfalls abklingen, allerdings auf etwa 5,8 Prozent – ein Wert, der immer noch weit über dem Ziel der Bank of England (BoE) liegt. Vor diesem Hintergrund besteht die einzig sinnvolle Entscheidung der BoE darin, die Zinsen entweder zu erhöhen oder sie auf dem aktuellen Niveau zu halten. Dies spiegelte sich auch in der Abstimmung auf der letzten Sitzung wider: Sechs Mitglieder stimmten für eine Beibehaltung der Zinsen, die anderen drei für eine weitere Erhöhung. In einer ähnlichen Lage befinden sich auch die meisten anderen Zentralbanken.
Arbeitslosigkeit wird zunehmen
Was könnte sich also ändern? Wir gehen davon aus, dass die Arbeitslosigkeit über den Winter zunimmt. Ein erster Indikator sind die jüngsten Zahlen aus den USA: Nach dem Tiefstand von 3,4 Prozent im April ist die Arbeitslosenquote hier auf 3,9 Prozent gestiegen. Das ist immer noch eine niedrige Zahl. Sollte dieser Anstieg um einen halben Prozentpunkt jedoch in einem gleitenden 3-Monats-Durchschnitt realisiert werden, könnte die Sahm-Regel eintreten. Diese hat den Zeitpunkt früherer Rezessionen in den USA genau vorhergesagt – sogar genauer als die viel bekanntere Renditekurvenregel. Die Beschäftigung in den USA nimmt zwar immer noch zu, aber das Arbeitskräfteangebot steigt schneller, vor allem durch die Einwanderung. Ich erwarte daher, dass die Sahm-Regel Anfang 2024 zur Geltung kommt.
In Europa gibt es kein Äquivalent zur Sahm-Regel. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit in der Eurozone sogar auf einem Rekordtief. Aber angesichts des stagnierenden Wachstums ist ein Anstieg über den Winter sehr wahrscheinlich. Dies dürfte mit einer deutlich niedrigeren Kerninflation einhergehen: JP Morgan schätzt, dass die annualisierte 3-Monats-Rate bis zum Jahresende auf nur 2,4 Prozent fallen wird.
Im Vereinigten Königreich ist die Messung von Löhnen und Arbeitslosigkeit schwierig: Die wichtigsten Daten in diesem Bereich stammen vom Office for National Statistics (ONS), dieses hat die Erhebung jedoch aufgrund einer geringen Rücklaufquote aufgegeben. Glücklicherweise verfügt das ONS über alternative, meiner Meinung nach sogar viel bessere, Quellen. Und diese zeigen einen deutlichen Rückgang der Lohninflation. Wenn sich dies im Einklang mit unseren Erwartungen in weiteren Fortschritten bei der Kerninflation niederschlägt, wird die BoE beginnen, ernsthaft über Zinssenkungen nachzudenken. Das wäre eine große Veränderung.
Deutliche Zinssenkungen 2024
Alles in allem erwarten wir von den führenden Zentralbanken im Jahr 2024 deutliche Zinssenkungen. Der Fortschritt wird jedoch nicht reibungslos sein. Die dieswöchigen Inflationsdaten aus den USA könnten darauf hindeuten, dass der Rückgang der Kerninflation zum Stillstand gekommen ist. Aber der Trend ist unserer Ansicht nach eindeutig. Der Krieg gegen die Inflation ist noch nicht gewonnen, aber das Blatt hat sich gewendet. Wenn ich richtig liege, ist das eine gute Nachricht für Anleihen und Aktien gleichermaßen.