Die Reparatur der weltweiten Handelsfinanzierung

Titel der Publikation: Die Reparatur der weltweiten Handelsfinanzierung
Veröffentlichung: 01/2022
Autor: John W.H. Denton, Victor K. Fung, Bob Sternfels, Marcus Wallenberg
Auftraggeber: Project Syndicate
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Weltweit werden Waren und Dienstleistungen über kritische Infrastruktur transportiert: Straßen, Häfen, Schienennetze, Schifffahrtsrouten und Datenserver. Von ebenso zentraler Bedeutung ist das 5,2 Billionen Dollar schwere globale Handelsfinanzierungssystem, das diese Waren- und Dienstleistungsströme ermöglicht.

25.01.2022 | 08:00 Uhr

Leider funktioniert es nicht immer so gut, wie dies potenziell möglich wäre. Das Handelsfinanzierungssystem von heute ist geprägt von einem komplexen Dickicht aus jahrzehntealten manuellen Prozessen und jüngeren „digitalen Inseln“ – also geschlossenen Systemen von Handelspartnern, die vom großen Ganzen entkoppelt sind.

Aus einem neuen, von der Beratungsgruppe für Handelsfinanzierung der Internationalen Handelskammer, der Fung Business Intelligence und McKinsey & Company erstellten Bericht geht hervor, wie eine Vereinfachung der Prozesse sowie die Einbindung und Integration der erwähnten Inseln in Netzwerke und Plattformen die Weltwirtschaft verändern könnte.

Laut Angaben der Asiatischen Entwicklungsbank hat die globale Handelsfinanzierungslücke im Jahr 2020 den Rekordwert von 1,7 Billionen Dollar erreicht – das entspricht 10 Prozent des weltweiten Warenhandels. Im Jahr 2018 lag der Wert bei 8 Prozent. Noch akuter präsentiert sich diese Lücke für Kleinst-, Klein-, und Mittelbetriebe (KKMU), auf die im Jahr 2020 40 Prozent der abgelehnten Anträge auf Handelsfinanzierung entfielen. Während digitale Netzwerke also zweifellos die Zukunft des Handels darstellen, besteht bei ihrer Ausweitung in ihrer derzeitigen Form jedoch die Gefahr, dass sich die Kluft zwischen großen, vernetzten multinationalen Unternehmen und den für das Wirtschaftswachstum und die Arbeitsplatzschaffung in den Entwicklungsländern maßgeblichen KKMU vergrößert.

Man stelle sich beispielsweise eine Kunsthandwerkerin in Südostasien vor, die lokal vier Menschen beschäftigt. Sie ist in digitalen Dingen versiert und hat einen kleinen, aber wertvollen Online-Markt für ihre Produkte auf der anderen Seite der Welt gefunden. Doch das Steuer-, Kredit- und Zollsystem ihres Landes mit seinen Konnossementen und Kaufaufträgen ist nicht auf die Bedürfnisse ihres kleinen Unternehmen ausgerichtet. Ihr Anlagevermögen liegt unter den für eine positive Bonitätsprüfung erforderlichen Schwellenwerten und alle Unterlagen müssen manuell eingereicht werden. Die Einfuhrdokumente des Bestimmungslandes unterscheiden sich völlig von den Ausfuhrdokumenten ihres Landes, wodurch noch mehr Arbeit und Kosten verursacht werden. Nun stelle man sich vor, dass etwas verloren geht.

Je kleiner das Unternehmen, desto schwieriger ist es, sich in diesem komplexen, fragmentierten und undurchsichtigen System zurechtzufinden. Ein digital stärker vernetztes Handelssystem würde den KKMU helfen, in Länder und an Kundensegmente zu verkaufen, die sie derzeit nicht erreichen können.

Eine Reparatur des Systems ist unabdingbar. Bis 2030 müssen weltweit 600 Millionen Jobs geschaffen werden, um vor allem in den Entwicklungsländern die Neueinsteiger auf dem Arbeitsmarkt aufzunehmen. KKMU, die rund 90 Prozent der weltweiten Unternehmen und die Mehrheit der Arbeitsplätze stellen, werden eine wesentliche Rolle bei der Deckung dieses Bedarfs und der Erschließung des Potenzials des Handels zur Förderung des Wirtschaftswachstums spielen. Außerdem kann ein verbessertes Handelsfinanzierungssystem zur Entspannung der Lieferketten-Engpässe beitragen, die die wirtschaftliche Erholung verlangsamen und ihren Beitrag zur höheren Inflation inmitten der Covid-19-Pandemie leisten.

Frühere Anstrengungen zur Verbesserung der Handelsfinanzierung haben zu einem Wildwuchs an Netzwerken, digitalen Standards und Digitalisierungsinitiativen geführt. Viele dieser Initiativen sind zwar hervorragend gestaltet, dennoch brauchen wir eine „ganzheitliche“ Lösung, um die Handelsfinanzierungslücke im Ausmaß von 1,7 Billionen Dollar zu schließen.

Wir schlagen daher ein stärker systematisches Modell vor, im Rahmen dessen alles in einer von uns so bezeichneten „Interoperabilitätsebene“ digital vereint wird. Dabei würde es sich weder um eine neue bürokratische Ebene noch um einen Ersatz für Regulierungen handeln, sondern vielmehr um ein virtuelles Konstrukt, das einen globalen Rahmen für bestehende und künftige Standards, Protokolle und Grundsätze bietet und darauf abzielt, alle Akteure im Ökosystem der Handelsfinanzierung in aktuellen und künftigen Netzwerken zu verbinden.

Dieses Konstrukt würde sich auf drei zentrale Säulen stützen: den digitalen Handel ermöglichende Faktoren oder Standards, die die Digitalisierung der Handelsfinanzierung und des globalen Handels unterstützen; spezifische Standards zur Erleichterung der Digitalisierung in der Handelsfinanzierungsbranche; und optimale Vorgehensweisen in Richtung Interoperabilität in der Handelsfinanzierung. Eine weltweit agierende Institution aus der Branche oder ein Konsortium könnte die Lenkung dieser Ebene übernehmen und dabei auf bestehende Programme wie die im letzten Jahr ins Leben gerufene ICC Digital Standards Initiative aufbauen.

Diese Interoperabilitätsebene würde so etwas wie eine globale ISO-Qualitätsnorm für das Handelssystem schaffen und nach dem Vorbild der InternetEngineering Task Force agieren, die sich um die Entwicklung von Internet-Standards kümmert. Die Einrichtung einer derartigen Interoperabilitätsebene erfordert starkes Engagement von Banken, Regierungen, Handelsorganisationen und Nichtregierungsorganisationen. Zögen jetzt alle an einem Strang, könnten die Akteure mit greifbaren Vorteilen rechnen und möglicherweise in 2-3 Jahren mit einer starken Governance.

Für unsere hypothetische südostasiatische Kunsthandwerkerin würde eine solche systemische Lösung bedeuten, dass jeder Schritt des Handelsprozesses online und von ihrem Laptop aus steuerbar wäre. Zahlreiche Schritte, wie etwa die Bonitätsprüfung, wären durch künstliche Intelligenz begleitet und auf ihr kleines Unternehmen zugeschnitten. In den Systemen für Import und Export würde man eine einheitliche Sprache für die Dateneingabe nutzen, wodurch sich der Prozess für die Kunsthandwerkerin ebenso vereinfacht wie für die Zollbeamten und die Heerscharen an Systemoperatoren. Gleichzeitig ergäbe sich der Vorteil einer einfachen und raschen Fehlerbehebung.

Der Aufbau der Interoperabilität gestaltet sich komplex, doch die Vorteile wären weitreichend und tiefgreifend. Käufer und Lieferanten würden wahrscheinlich von mehr Liquidität, niedrigeren Kosten, Vereinfachungen im System und einem besseren Zugang zu Krediten und Business-to-Business-Märkten profitieren. Ein verbessertes und integriertes Handelsfinanzierungssystem könnte auch institutionelle Anleger anlocken, die sich bisher weitgehend ferngehalten haben. Logistikdienstleister, die vielfach noch mit Papierdokumenten arbeiten, würden von geringeren Kosten sowie größerer Sicherheit und Effizienz aufgrund der standardisierten Handelsdokumente profitieren. Und Regierungen und Regulierungsbehörden hätten Zugang zu umfassenderer und besserer Information, um die Zusammenarbeit mit Akteuren aus dem Finanzsektor zu unterstützen und potenziell zusätzliche Finanzmittel freizugeben.

Darüber hinaus können Innovationen in den Bereichen Blockchain und Digitalisierung das globale Handelsfinanzierungssystem erheblich verbessern und gewährleisten, dass Unternehmen jeder Größe und Verbraucher auf der ganzen Welt davon profitieren.

Für eine nachhaltigere und integrative Weltwirtschaft ist die Reparatur der Handelsfinanzierung unerlässlich. Und weil sie auch für eine solide Erholung nach der Pandemie unabdingbar ist, präsentieren sich die potenziellen kurzfristigen Vorteile enorm.


Über die Autoren

John W.H. Denton ist Generalsekretär der Internationalen Handelskammer. Victor K. Fung ist Präsident der Fung Group und Ko-Vorsitzender der Beratungsgruppe für Handelsfinanzierung der Internationalen Handelskammer. Bob Sternfels ist Global Managing Partner von McKinsey & Company. Marcus Wallenberg ist Vorstandsvorsitzender der SEB und Ko-Vorsitzender der Beratungsgruppe für Handelsfinanzierung der Internationalen Handelskammer.

Copyright: Project Syndicate

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