Dr. Christian Jasperneite: Nach dem Rücktritt von Weidmann - Warum die deutsche Schuldenbremse spätestens jetzt keinen Sinn mehr ergibt
Titel der Publikation: | Dr. Christian Jasperneite: Nach dem Rücktritt von Weidmann - Warum die deutsche Schuldenbremse spätestens jetzt keinen Sinn mehr ergibt |
Veröffentlichung: | 10/2021 |
Autor: | Dr. Christian Jasperneite |
Auftraggeber: | M.M.Warburg & CO |
Ja, Sie haben die Überschrift richtig gelesen. Wir schlagen tatsächlich vor, die rigide deutsche Sparpolitik und letztlich die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse in der jetzigen Form aufzugeben.
29.10.2021 | 12:20 Uhr
Das schlagen wir vor, obwohl wir seit Jahrzehnten (!) eher klassische ordnungspolitisch geprägte Thesen vertreten, die mit einer ausufernden Staatsverschuldung ganz sicher nicht kompatibel sind. Trotzdem können wir nicht anders; spätestens nach dem Rücktritt von Weidmann muss man den Themenkomplex in einem anderen Licht betrachten. Warum das so ist, lesen Sie in den folgenden Zeilen.
Weidmann war und ist einer der profiliertesten, erfahrensten und weltweit angesehensten Notenbankchefs. Seit zehn Jahren hat er unermüdlich darum gekämpft, dass die EZB nicht einseitig zu einer Institution wird, die ihre wesentliche Aufgabe darin sieht, dass sich die Staaten der Eurozone hinreichend günstig refinanzieren können. Leider hat es schon fast Tradition, dass deutsche Mitglieder des EZB-Rates aufgrund geldpolitischer Dissonanzen das Handtuch werfen.
So hatten zuvor auch Axel Weber, Jürgen Stark und vermutlich auch Sabine Lauten-schläger ihre Tätigkeit bei der EZB eingestellt, da geldpolitische Grabenkämpfe ein konstruktives Arbeiten deutlich erschwerten, um es einmal diplomatisch zu formulieren. So gesehen kann man Weidmann keinen Vorwurf machen, denn er war innerhalb der EZB der letzte bedeutsame, prominente und mutige Verfechter einer politisch unabhängigen Notenbank.
Doch irgendwann kommt der Moment, in dem man sich eingestehen muss, dass der Kampf verloren ist. Was man Weidmann allenfalls vorwerfen könnte wäre die Tatsache, dass er weitgehend mit verbalen Waffen auf akademischem Niveau Dispute ausgetragen hat, obwohl es durchaus schärfere Optionen gegeben hätte. So hätte er beispielsweise der Bundesbank verbieten können, weiterhin an Anleihekäufen teilzunehmen.
Aber das ist nun Geschichte, und vor uns liegt jetzt eine Zeit, in der die Geldpolitik der EZB erkennbar nicht mehr in der Tradition einer unabhängigen Bundesbank steht, sondern in der Tradition südeuropäischer Notenbanken, die von ihren Staaten eher wie angeschlossene Abteilungen des Finanzministeriums behandelt wurden und dies de facto teilweise auch viele Jahre waren.
So wundert es auch nicht, dass im Moment des Rücktritts von Weidmann eine Kaskade von offiziellen EZB-Statements auf den Markt einprasselte, deren Message keinen Zweifel am zukünftigen Fahrplan ließen: So können wir uns inzwischen mehr oder weniger sicher sein, dass der Leitzins auf nahezu unbestimmte Zeit in der Nähe von null Prozent verharren wird und die Anleiheaufkaufprogramme zwar reduziert, aber lange noch nicht eingestellt werden.
Wie praktisch, dass nun zeitgleich in der EU-Kommission darüber debattiert wird, die Maastricht-Kriterien aufzuweichen und eine Verschuldung von 100% statt von 60% relativ zum BIP zuzulassen. Dabei waren die ursprünglich festgelegten und jetzt noch gültigen Kriterien (drei Prozent Nettoneuverschuldung relativ zum BIP und 60% Verschuldung relativ zum BIP) gar nicht schlecht gewählt.
Denn wenn man plausible Annahmen hinsichtlich der BIP-Wachstumsraten und der Zinsen trifft, sind die Kriterien kompatibel mit einer Staatsverschul-dung, die dauerhaft und nachhaltig stabil bleibt und eben nicht aus dem Ruder läuft. Ändert man dagegen die zulässige Verschuldung auf 100% des BIP, geht die Rechnung bei plausiblen Annahmen hinsichtlich des BIP-Wachstums mathematisch nur noch auf, wenn man quasi auf ewig Zinsen von Nahe null Prozent unterstellt. Und genau das scheint die EZB implizit garantieren zu wollen.
Das Ganze geschieht in einer Phase, in der auch die klassische no-bailout-Klausel in ihrer Relevanz gegen Null läuft. Denn die EU entwickelt sich hin zu einer Transfer- und Haftungsunion, in der haushaltspolitische Risiken zunehmend gemeinsam getragen werden. Ein weiterer Schritt in diese Richtung ist der 750-Mrd.-Euro Corona-Hilfsfonds. Die ersten Mittel aus diesem Fonds werden ausgezahlt werden, wenn die Corona-Krise schon längst vorbei ist, aber die Idee einer gemeinsamen Finanzierung und Haftung wird bleiben.
Ist es in dieser Welt noch ökonomisch rational, eine nationale Schuldenbremse anzuwenden, so wie sie Deutschland im Grundgesetzt verankert hat und bisher auch hinreichend genau res-pektiert hat? Eigentlich nicht. Denn die Schuldenbremse wird bei neuen, zukünftig gültigen Maastricht-Kriterien die Lücke in der Verschuldung zwischen Deutschland und den restlichen EU-Ländern mehr oder weniger zementieren.
Mit angewandter Schuldenbremse würde sich Deutschland wieder langsam in Richtung einer Verschuldung von 60% relativ zum BIP entwickeln, während für die restlichen Länder selbst ein Erreichen von 100% Verschuldung relativ zum BIP fast utopisch wäre, da der Wert im Schnitt jetzt eher schon bei 110% liegt (EU ohne Deutschland).
Für einen ökonomischen Laien mögen diese Zahlen gar nicht viel bedeuten, doch liegen tatsächlich ganze Welten dazwischen. Wenn Deutschland beispielsweise anstreben würde, die Verschuldung auf das Niveau der anderen EU-Länder anzuheben, könnten fast 1.600 Mrd. Euro an zusätzlichen schuldenfinanzierten Ausgaben geplant werden. Wer sich schwertut, auch diese Zahl einzuordnen: Der Bundeshaushalt liegt bei etwa 400 Mrd. Euro.
Mit diesem Ausgabenpotenzial gäbe es auf Jahrzehnte hinweg keine ernsthaften Restriktionen mehr für die deutsche Politik. Ohne größere Probleme könnten die Bildungsausgaben dramatisch erhöht und die Steuern dramatisch gesenkt werden. Die Infrastruktur könnte von Grund auf erneuert und Investitionen für den Klimawandel mutig angegangen werden.
Einen Haken hat die Sache allerdings: Das gewaltige Ausgabenpotenzial, dass sich aus der geringen Verschuldung Deutschlands ergibt, wirkt in gewisser Weise wie eine Versicherung für die EU und die Eurozone, wenn etwas ganz gewaltig schiefläuft. Diese Versicherungssumme und damit das Potenzial zum Zahlen hoher Rechnungen im Falle einer wie auch im-mer gearteten Katastrophe würde in dem Maße kleiner werden, indem Deutschland seine Verschuldung an das Niveau anderer Länder anhebt.
Seine eigene Bonität aber dafür aufzusparen, in einer Währungs- und Haftungsunion Rechnungen für andere zahlen zu können, grenzt an ökonomischem Wahnsinn. Kein Land auf der Welt wäre so altruistisch, sich selbst fast totzusparen, um eine Bonität aufrechtzuerhalten, von der primär die anderen profitieren. Selbst Deutschland kann nicht so verrückt sein, darin einen Sinn zu sehen, zumal der Druck aus anderen Ländern ohnehin unerträglich groß werden wird, die deutsche Schuldenbremse aufzu-geben und sich dem Deficit-Spending anderer Länder anzuschließen.
Man kann es sogar noch krasser formulieren: Ein Deutscher Sonderweg, der darin bestünde, trotz Transfer- und Haftungsunion und trotz modifizierter Maastricht-Kriterien und trotz der Quasi-Garantie, sich zu null Prozent verschulden zu können, seine Schulden auf einem signifikant niedrigeren Niveau als im Rest der EU zu halten, ergäbe nur Sinn, wenn man plant, den Club und damit die EU und die Eurozone zu verlassen.
Denn dann wäre man perspektivisch wieder alleine für seine Schulden haftbar und müsste alleine versuchen, sich am Markt in seiner eigenen Währung zu refinanzieren – vermutlich dann zu realistischen Marktzinsen und eben nicht künstlich niedrigen EZB-Zinsen. Aber genau das plant keiner in Deutschland, und das ist auch gut so.
Wenn aber Deutschland bewusst die Entscheidung trifft, selbstverständlicher Teil der EU und des Euroraumes zu bleiben, müssen wir auch akzeptieren, dass sich die Regeln dieses Clubs geändert haben. Und da wir offensichtlich nicht mehr in der Lage sind, Einfluss auf die Gestaltung der Regeln zu nehmen (siehe Rücktritt von Bundesbankpräsident Weidmann), muss man sein Verhalten an die neuen Regeln anpassen. Als Skeptiker mag man sich nun fragen: Kann das gut gehen?
Angenommen, dieser ordnungspolitisch mangelhafte Rahmen fährt in 20 oder 30 Jahren vor eine Wand, dann ist es zumindest besser, mit einer guten Infrastruktur und gut ausgebildeten Fachkräften einen Neuanfang zu starten als mit einem Land, dass sich bis zu dem Zeitpunkt totgespart hat und dann trotzdem bei null anfangen muss. So gesehen gibt es gar keine ernsthafte Alternative mehr zum Geldausgeben. Die Politik hat jetzt nur noch die Wahl zwischen einer effizienten und weniger effizienten Ausgabenpolitik. Die alte Schuldenbremse ist keine Lösung mehr.