Expertenanalyse: „Ein Cash-Flow-Schock steht bevor“

Jede Woche veröffentlichen führende Vermögensverwalter und Fondsgesellschaften weltweit zahlreiche fundierte Einschätzungen zu den Finanz- und Kapitalmarktmärkten. Um einen Überblick zu erhalten, stellt TiAM FundResearch regelmäßig die wichtigsten Aussagen für Sie kompakt zusammen.

29.07.2022 | 12:30 Uhr von «Peter Gewalt»

Diese Woche analysierten die Experten vor allem die geldpolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in den USA sowie ihre Auswirkungen auf die Kapitalmärkte.


Geir Lode, Leiter des Bereichs Global Equities bei Federated Hermes Limited, äußert sich zum Zinsentscheid der US-Notenbank Federal Reserve wie folgt:
„Wie erwartet hat die Federal Reserve die Zinssätze den zweiten Monat in Folge um 75 Basispunkte erhöht. Insgesamt stellen die Zinserhöhungen seit Juni den stärksten Anstieg seit über 40 Jahren dar und zielen darauf ab, die sich beschleunigende Inflation zu bekämpfen, die auf dem höchsten Stand seit 1981 ist. Eine derart hohe Inflation ist für das langfristige Wirtschaftswachstum und eine stabile Beschäftigung nachteilig. Wir sind der Ansicht, dass die US-Notenbank dem Markt signalisiert, dass die höheren Zinssätze noch einige Zeit Bestand haben werden, um die Inflation auf das Zwei-Prozent-Ziel zu senken.

Die neuesten Zahlen zum US-BIP deuten darauf hin, dass sich die Wirtschaft technisch gesehen in einer Rezession befinden könnte. Der Vorsitzende der US-Notenbank, Jerome Powell, betonte, dass der Arbeitsmarkt nach wie vor stark sei und dass eine sanfte Landung immer noch das wahrscheinlichste Szenario sei. Der Terminmarkt sagt für 2023 deutlich niedrigere Zinssätze voraus, was mit den Erwartungen einer wirksamen und relativ schnellen Fed-Kampagne zur Stabilisierung der Inflation im Einklang steht. Ob dies entgegen den meisten Lehrbuchszenarien ohne eine erhebliche Schwächung des Arbeitsmarktes erreicht werden kann, wie die Fed behauptet, bleibt abzuwarten.

Nach der Zinsankündigung erholten sich sowohl die Aktien- als auch die Anleihemärkte. Growth-Titel schnitten deutlich besser ab als Value-Titel, was die Erwartung des Marktes an niedrigere künftige Zinsen widerspiegelt. Wir sind der Meinung, dass Unternehmen mit einer starken Bilanz, einer strengen Kostenkontrolle und einem starken Umsatzwachstum in diesem Umfeld außergewöhnlich gut abschneiden werden. Der Markt wird daher erneut Growth- gegenüber Value-Aktien bevorzugen."


Tiffany Wilding, Managing Director und US-Volkswirtin bei PIMCO analysiert die allgemeineren Auswirkungen einer Rezession in den USA:
„Ausgehend von einer hohen Inflation werden die Konturen dieser Rezession wahrscheinlich ganz anders aussehen als die in der jüngsten Vergangenheit. Erhöhte Inflation wird wahrscheinlich die übliche antizyklische Reaktionsmöglichkeiten der Zentralbanken und der Finanzbehörden begrenzen (mit dem Vorbehalt, dass verschiedene europäische Regierungen nach Möglichkeiten suchen, die höheren Energiekosten für einkommensschwache Haushalte zu subventionieren), zu höheren Zinssätzen beitragen und ganz allgemein eine Verschärfung der finanziellen Bedingungen zur Wiederherstellung der Preisstabilität erfordern. All dies deutet darauf hin, dass der Abschwung selbst langsamer verlaufen könnte, aber länger andauert und eher in eine Periode mit schleppendem Wachstum unter dem Trend übergehen wird. In dieser wird die reale Wirtschaftstätigkeit eingeschränkt und bleibt anfällig für wirtschaftliche Schocks, bis die Inflation sich schließlich abschwächt. Dies ist natürlich kein gutes Umfeld für Finanzanlagen, und mittelfristig könnten die erhöhten Finanzierungskosten die Arten von Investitionen einschränken, die notwendig sind, um die Kapazitätsengpässe zu beheben.“


Laut einer neuen Analyse von Janus Henderson Investors haben sich zwei von drei Schlüsselindikatoren, die die Kreditbedingungen angeben, im letzten Quartal verschlechtert. Daher sei es ratsam, Credit-Portfolios für einen Abschwung und die damit einhergehende Marktvolatilität sowie eine Verschlechterung der Kreditbedingungen zu positionieren:
„Der Indikator ‚Zugang zu den Kapitalmärkten' ist von gelb auf rot umgesprungen
Die Liquiditätsentwicklung verschlechtert sich weiter, die Kreditvergabestandards werden strenger, und die Kosten für die Kreditaufnahme steigen drastisch an. Neben den Zinssätzen haben sich auch die Credit Spreads außergewöhnlich schnell erhöht. Für viele Unternehmen dürften die Kreditkosten heute um 3 bis 3,5 % höher sein als zu Jahresbeginn.

Auch die Realzinsen sind in die Höhe geschnellt. Dies erhöht das Risiko für die Unternehmen, sich zu finanzieren, und die Risikoaversion hat ebenfalls zugenommen. Sowohl die Kosten als auch die Bereitschaft der Märkte, Unternehmen billiges Kapital zur Verfügung zu stellen, liegen hinter uns. Die Unternehmen müssen Kredite aufnehmen, und wenn das schwieriger wird, nimmt der Druck auf die Kredite tendenziell zu. Dennoch sind die Ausfallerwartungen nach wie vor niedrig.

Die Gewinne haben ihren Höhepunkt erreicht – ein Cashflow-Schock steht bevor· Die ‚Cashflow/Gewinn‘-Ampel ist von grün auf gelb umgesprungen. Anhaltende Lieferengpässe und ein Rückgang der Sparquote werden wahrscheinlich zu einem Konsumrückgang führen, während die Gewinnspannen der Unternehmen durch höhere Inputpreise unter Druck geraten. Die Ertragslage, die sich als so stabil erwiesen hat und eine der großen Überraschungen der Pandemie war, hat wahrscheinlich ihren Höhepunkt erreicht und geht zurück.

In einigen Sektoren ist eine Gewinnabschwächung zu beobachten, doch sind noch keine umfassenden Herabstufungen zu verzeichnen. Die Gewinnspannen sind nach wie vor stabil, doch wird sich diese Schonfrist bald auflösen, da sich die Energiekrise und die Lieferengpässe weltweit ausbreiten und die Cashflows belasten. Die Fundamentaldaten der Unternehmensemittenten blieben jedoch im Laufe des Quartals stabil, da der Nettoverschuldungsgrad bei Investment-Grade- und High-Yield-Anleihen konstant blieb oder zurückging, während die Zinsdeckungsquote weiter anstieg.“


François Rimeu, Senior Strategist, La Française AM , bleibt skeptisch, was Risikoanlagen betrifft:
„Die Credit- und Aktienmärkte haben seit Anfang des Jahres stark nachgegeben. Infolge einer solchen Korrektur stellt sich natürlich die Frage einer Erhöhung der Allokation in risikoreiche Anlagen insgesamt.

Das derzeitige Hauptproblem für uns als Vermögensverwalter ist, ob die Ertragslage vom Markt richtig eingeschätzt wird oder nicht. Der Konsens erwartet zurzeit ein Gewinnwachstum in den USA von etwa zehn Prozent für 2022 und acht Prozent für 2023 – Zahlen, die in den letzten Monaten ständig nach oben korrigiert wurden. Wir gehen davon aus, dass diese Zahlen in den nächsten Monaten aus den oben genannten Gründen nach unten korrigiert werden. Ein sinkendes Verbrauchervertrauen wirkt sich ebenso negativ auf den Gewinnzyklus aus wie eine Straffung der Geldpolitik oder Abwärtskorrekturen des Wirtschaftswachstums. Das Ausmaß künftiger Abwärtskorrekturen wird vom Grad der Konjunkturabschwächung und den anhaltenden Inflationsrisiken abhängen, die derzeit schwer einzuschätzen sind.

Im Hinblick auf unsere Allokation werden wir abwarten, wie sich die Märkte für Risikoanlagen entwickeln, denn es bestehen erhebliche Risiken bezüglich der weiteren Konjunktur, einer strafferen Geldpolitik und eines Konsenses, der die künftigen Unternehmensgewinne nicht ausreichend berücksichtigt. Hinzu kommen natürlich Befürchtungen, dass in diesem Winter in Europa Energierationierungen eingeführt werden könnten oder dass eine weitere Corona-Welle die Wirtschaftstätigkeit in China erneut beeinträchtigen könnte.“


Chris Iggo, CIO Core Investments, AXA Investment Managers fragt sich dagegen, ob die Talsohle an den Börsen vielleicht schon erreicht sei:
„Manche Anleger mögen Growth, manche mögen Value. Letztlich mögen Anleger aber Aktien, mit denen sie vertraut sind – Apple, Microsoft, Netflix und so weiter. Und die Märkte sind nicht effizient, was jene Leute verrückt macht, die Aktienkurse aus rein fundamentaler Sicht betrachten. Die tatsächliche Anzahl der Apple-Aktien am Markt ist in den vergangenen Jahren in der Tat zurückgegangen. Und das gilt auch für eine Reihe anderer beliebter US-Titel. Doch die Menge an Geld, die hinter diesen Aktien her ist, hat zugenommen. Das Momentum ist also sehr wichtig – die Bewertungsprämien für diese Art von Unternehmen sind langfristiger Natur. Wenn diese Prämie sinkt, sehen diese Aktien werthaltiger aus. Apple, Adobe, PayPal, Salesforce – um nur einige zu nennen – haben ein aktuelles geschätztes Kurs-Gewinn-Verhältnis für die kommenden zwölf Monate, das unter oder nahe dem Wert vom Februar 2020 liegt. Jedoch haben sie seitdem ihre Gewinne gesteigert.

Möglicherweise müssen wir eine andere, vorsichtigere Sichtweise einnehmen, wenn die vollständigen Ergebnisse für das zweite Quartal vorliegen oder wenn es noch schlechtere makroökonomische Nachrichten zur Inflation oder zur Energiesituation in Europa gibt. Die EZB zeichnete in ihrem Kommentar nach der Leitzinserhöhung von -0,5 Prozent auf null Prozent ein besorgniserregendes Bild für die Aussichten in der Eurozone. Aber die Märkte wissen das. Sie gehen nicht davon aus, dass die Zentralbanken die Zinsen so stark erhöhen können. Die Zinserwartungen haben also ihren Höhepunkt erreicht.Dies trägt dazu bei, dass sich die Aktienmärkte wieder ausbalancieren und Unternehmensanleihen beginnen, positive Renditen zu liefern. Andererseits haben sich einige Aktiensektoren parallel zu einem starken zyklischen Gewinnaufschwung gut entwickelt. Dieser zyklische Gewinnaufschwung wird aber schwer aufrechtzuerhalten sein, wenn sich das Wachstum abschwächt. Es wäre überraschend, wenn der Energiesektor seine Performance aufrechterhalten kann, während der breitere Industrie- und Rohstoffsektor ebenfalls stärker von Gewinnrückgängen bedroht ist.

Es scheint, als wollten die Märkte dem Bärenmarkt nicht mehr hinterherjagen. Anleihen erholten sich nach der EZB-Sitzung, weil schwächere US-Daten anzeigen, wohin sich die Wirtschaft entwickelt. Eine zyklische Verlangsamung ist garantiert, aber es scheint mehr Vertrauen in eine sanfte Landung zu geben. Nach Rückgängen von 15, 20 und 25 Prozent in verschiedenen Anlageklassen könnte es sein, dass wir die Talsohle erreicht haben. Es handelt sich vielleicht nicht um eine Rallye, die durch bessere makroökonomische Aussichten gerechtfertigt ist, aber Cash könnte der Sichtweise folgen, dass es nicht noch schlimmer wird.“


In seinem Halbjahresbericht rechnet der Vermögensverwalter Nuveen Mit anhaltendem Gegenwind an den Kapitalmärkten auch im zweiten Halbjahr 2022. Für die Portfoliokonstruktion leiten die Experten daraus folgende Schlüsse auf Sicht der kommenden sechs bis zwölf Monate ab:
- Bevorzugung von Credits gegenüber Aktien: Diese Präferenz basiere auf dem günstigeren Risikoertragsprofil von Unternehmensanleihen.
- Wiederanhebung der Duration: Angesichts steigender Wahrscheinlichkeit einer Rezession und weitgehender Verarbeitung der erwarteten Zinsschritte an den Anleihenmärkten sei es an der Zeit, die Durations-Untergewichtung zu neutralisieren.
- Reale Assets als Inflationsschutz: Anlagen in Infrastruktur, Ackerland und Gewerbeimmobilien könnten Schutz vor hoher Inflation bieten.
- Besondere Attraktivität öffentlicher Märkte: Auch wenn eine strategische Allokation in privaten Assets wertvoll bleibe, böten die angeschlagenen öffentlichen Märkte derzeit ein besonders hohes kurzfristiges Aufwärtspotenzial.“


Hamed Mustafa, Leiter Institutional Sales Deutschland im Bereich ETF und Index Investing bei BlackRock, kommentiert die aktuellen Chancen und Risiken einzelner Anlagestil-Faktoren wie folgt:
Momentum-Aktien, also Titel im Aufwärtstrend, entwickelten sich aufgrund des defensiven Charakters zuletzt gut. Auch die Bewertungsseite sieht attraktiver aus, seitdem der teure IT-Sektor in dem Stil-Faktor nicht mehr Berücksichtigung findet.

Der Stil-Faktor Quality, bei dem der Fokus auf Papieren qualitativ hochwertiger Unternehmen mit besonders gesunden Bilanzen liegt, scheint nun fair bewertet, das Preis-Momentum ist allerdings zuletzt schwächer geworden.

Value-Aktien, also Titel mit niedrigen Kurs-Gewinn- oder Kurs-Buchwert-Verhältnissen, haben im Juni vor dem Hintergrund der Konjunktursorgen unter dem „risk off“-Modus an den Börsen gelitten. Der Stil-Faktor ist aktuell günstig bewertet und weist ein attraktive Preis-Momentum auf.

Minimum-Volatility-Aktien, Werte mit relativ geringen Schwankungsbreiten, haben sich im Juni und auch im zweiten Quartal wegen ihrer risikoreduzierenden Eigenschaften am besten entwickelt. Das Kurs-Momentum ist deutlich stärker geworden, wohingegen die Bewertung unattraktiv ist.

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