Goldman Sachs AM: Wie problematisch ist Italiens Schuldenberg?
Von Simona Gambarini, Senior Market Strategist, Strategic Advisory Solutions bei Goldman Sachs Asset Management.18.07.2022 | 10:37 Uhr
Eine der am meisten beobachteten Risikokennzahlen macht sich
in Italien wieder bemerkbar: Mit rund 3,5 % (Stand: 14. Juli 2022) ist die
Rendite der 10-jährigen italienischen Anleihen (Buoni del Tesoro Poliannuali –
BTP) auf dem höchsten Stand seit Mitte der europäischen Staatsschuldenkrise und
liegt deutlich über dem, was die meisten als „sicheren Bereich“ im Hinblick auf
die Schuldendynamik bezeichnen würden. Um eine Schuldenkrise in der Eurozone zu
vermeiden, muss die Europäische Zentralbank (EZB) nun entschlossen handeln.
Italien braucht politische Kontinuität
Eine Kombination aus besserem nominalen BIP-Wachstum, einer ausgeglicheneren
inländischen Ersparnisbildung und vielen Jahren an niedrigen
Finanzierungskosten haben Italien zugegebenermaßen geholfen, den jüngsten
Renditeanstieg abzufedern. Und die relativ lange durchschnittliche Laufzeit der
italienischen Staatsschulden von etwa sieben Jahren sollte die kurzfristigen
Auswirkungen steigender Renditen auf die Finanzierungskosten etwas abmildern.
Wenn die Renditen längere Zeit auf diesem erhöhten Niveau verharren oder sogar
noch weiter steigen, würde die italienische Staatsschuldenquote ohne
einschneidende staatliche Maßnahmen dennoch steigen. Solange die
durchschnittlichen nominalen Zinssätze, die auf Staatsschulden gezahlt werden
müssen, niedriger sind als das nominale potenzielle BIP-Wachstum, dürfte die
Schuldenquote relativ stabil bleiben. Aber da Italiens nominales BIP-Wachstum
vor der Pandemie bei durchschnittlich 2,0 % lag, ist eine Rendite von 3,5
% für 10-jährige Staatsanleihen alarmierend, es sei denn, das Land kann sein
BIP-Wachstumspotenzial durch Reformen und Investitionen deutlich erhöhen. Dafür
ist aber Kontinuität in der Politik erforderlich.
Die EZB muss nun handeln
Italien ist durchaus nicht das einzige Land mit diesem Problem. Allerdings
steht Italien im Epizentrum des Fragmentierungsrisikos, denn das Land ist groß
genug, um mit einer Schuldenspirale die gesamte Eurozone zu destabilisieren.
Doch auch in Griechenland wird die Schuldendynamik beim aktuellen Renditeniveau
langsam untragbar, und Frankreich und Portugal sind nicht weit davon entfernt.
Die EZB muss also entschlossen handeln, um eine erneute Schuldenkrise in der
Eurozone zu vermeiden, besonders angesichts der Parlamentswahlen, die 2023 in
Italien, Griechenland und Spanien stattfinden. Ein Mangel an politischer
Kontinuität würde das Problem der fiskalischen Tragfähigkeit noch
verschlimmern.
Der EZB-Rat hat Mitte Juni bereits wichtige Schritte ergriffen, als er
beschloss, Flexibilität bei der Zuteilung der Reinvestitionen aus dem
Pandemie-Notfallkaufprogramm walten zu lassen und die Entwicklung eines neuen
Instruments zur Verhinderung einer Marktfragmentierung zu beschleunigen. Die
Tatsache, dass er mit dieser Entscheidung nicht bis zur nächsten planmäßigen
Sitzung im Juli gewartet hat, legt nahe, dass die Notenbanker ausreichend über
die Geschwindigkeit des jüngsten Ausverkaufs bei BTP besorgt sind und dass ihre
Schmerzgrenze früher als erwartet erreicht wurde. Tatsächlich hatte die EZB
davor angedeutet, dass ein Anti-Fragmentierungsinstrument nicht bevorstand,
aber eingeführt werden könnte, falls die Marktlage es erfordert. Wir rechnen
nun im Juli mit der Ankündigung eines Backstops. Wir gehen davon aus, dass
dieses neue Instrument wichtige Kapitalflexibilität bieten und keine Ex-ante-Kauflimits
enthalten, aber an irgendeine Form von Wirtschaftsreformen geknüpft sein wird.
Wir würden es begrüßen, wenn die Aufbau- und Resilienzfazilität der EU genutzt
wird, um diese Konditionalität umzusetzen.
Die Märkte werden die Entschlossenheit der EZB, eine Fragmentierung kurzfristig
zu verhindern, voraussichtlich testen. Im Fokus wird in den kommenden Wochen
stehen, welche Merkmale dieses Instrument haben wird, wie groß es sein wird
und, was am wichtigsten ist, welche Ziele oder Vorgaben für seine Aktivierung
festgelegt werden. Da im EZB-Rat wahrscheinlich Uneinigkeit über diese Fragen
herrschen wird, besteht unserer Ansicht nach Spielraum für die Einpreisung
weiterer staatlicher Risiken in den BTP-Spreads und noch mehr Abkoppelung der
Märkte für Staatsanleihen der Europäischen Wirtschaftsunion. Durch solche
Märkte zu navigieren, ist eine Herausforderung, was für einen aktiven Ansatz
von Anlegern spricht. Auf lange Sicht rechnen wir damit, dass die
Unterstützungsmaßnahmen der EZB und eine nachlassende Marktvolatilität dazu
beitragen werden, dass Italien als Emittent wieder in der Gunst der Anleger
steigt.