Marktausblick Edmond de Rothschild AM: Die Weltwirtschaft ist zwar angeschlagen, jedoch nicht am Ende
Die nächsten Monate werden darüber entscheiden, welche Zinssätze die Märkte von einer Straffung der Geldpolitik erwarten sollten.18.07.2022 | 07:54 Uhr
- In den westlichen Ländern verlangsamt sich das Wirtschaftswachstum, doch China sollte sich erholen.
- Sowohl an den Aktien- als auch an den Rentenmärkten bieten sich immer noch zahlreiche Anlagechancen.
Der Krieg in der Ukraine zieht sich hin, und ein Ende ist nicht absehbar.
Russland hat seine Energielieferungen nach Europa verringert – entweder auf
Initiative Europas oder weil Moskau dies beschlossen hat. Die Corona-Pandemie
hat mit neuen Virusvarianten auf der ganzen Welt Fuß gefasst. Produktionsketten
werden nach wie vor durch Chinas Null-Covid-Politik beeinträchtigt, die
mindestens bis zum 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas beibehalten
werden dürfte, auf dem Xi Jinping eine weitere Amtszeit anstreben wird.
DURCHWACHSENDE RAHMENBEDINGUNGEN
Die Agrarpreise scheinen sich seit März 2022 im Allgemeinen stabilisiert zu
haben, während die Energiepreise weiter gestiegen sind. Der zusätzliche, durch
starke Nachfrage bedingte Inflationsdruck unterstreicht lediglich, dass einige
Notenbanken deutlich hinterherhinken: Sie wollten unbedingt die Rückkehr zur
Vollbeschäftigung abwarten, bevor sie eine Straffung ihrer Geldpolitik in
Betracht ziehen würden. In den USA gibt es bereits Anzeichen dafür, dass die
Verankerung der Inflationserwartungen aufgehoben wird.
Die Botschaften der Notenbanken haben sich erheblich
verändert. Anfang Juli 2022 erwarteten die Anleger, dass die Europäische
Zentralbank (EZB) und die US-Notenbank Fed ihre Leitzinsen in einem Zeitraum
von 18 Monaten um 280 Basispunkte bzw. um ca. 230 Basispunkte anheben würden.
Das wäre ein beeindruckend hohes Tempo. Und die Anleger haben im zweiten
Quartal 2022 so heftig reagiert, dass zum ersten Mal seit Jahrzehnten keine
Anlageklasse – Geldmarktfonds eingeschlossen – im bisherigen Verlauf dieses
Jahres positive Renditen erzielen konnte.
WIRD DIE VON DEN MÄRKTEN ERWARTETE STRAFFUNG DER GELDPOLITIK AUSREICHEN?
Angeführt von den Notenbanken sind die Optimisten überzeugt – oder behaupten
zumindest –, dass wir nur zu neutralen Zinssätzen und gelegentlich vielleicht
zu einem etwas höheren Zinsniveau zurückkehren müssen, um die Inflation relativ
schnell und ohne allzu große Kollateralschäden für die Wirtschaft wieder auf
ihren Zielwert zurückzuführen. Die Skeptiker meinen dagegen, dass eine Anhebung
des US-Interbanken-Tagesgeldsatzes auf etwa 4 Prozent – also auf das derzeit
von den Märkten erwartete Niveau – nicht ausreichen wird, um die Inflation
einzudämmen, die bereits über diesen Prozentsatz hinaus tendiert. Es geht
schlicht und einfach um die Frage, ob wir die Inflation bezwingen können, wenn
die realen Basiszinssätze negativ sind. Olivier Blanchard, ehemaliger
Chefvolkswirt des IWF, ist der Meinung, dass die Fed diesen Leitzins auf nicht
weniger als 5 Prozent erhöhen muss.
Die nächsten Monate werden darüber entscheiden, welche Zinssätze die Märkte von einer Straffung der Geldpolitik erwarten sollten. Sie werden unterdessen weiter unter Druck stehen. Sollte die Inflation rasch zurückgehen, wäre es für die Anleger einfacher, den Verlauf des Zinserhöhungszyklus vorzuzeichnen und abzuwarten, wie sich die Inflation entwickelt. Dies wäre für Anleger ein günstigeres Szenario, weil sie dann hoffen könnten, dass die Notenbanken es schaffen, das Risiko eines Abgleitens in eine Rezession zu begrenzen. Andernfalls könnten die derzeitigen Inflationsraten und die Anzeichen dafür, dass die Verankerung der Inflationserwartungen der privaten Haushalte aufgehoben wird, durchaus dazu führen, dass die Märkte mit weiteren Zinserhöhungen rechnen.
Manche sind auch der Auffassung, dass die Notenbanken auf halbem Wege aufhören werden, die geldpolitischen Zügel anzuziehen, um eine moderatere Version der Rezession der 1970er Jahre und/oder der damals herrschenden Finanzierungskonditionen abzuwenden. Anders ausgedrückt: Die Notenbanken würden letztlich Inflationsraten hinnehmen, die über ihre Zielwerte hinaus tendieren. Wegen der anhaltend angespannten Lage am Arbeitsmarkt fällt es den Notenbanken zurzeit leichter, klar gegen die Inflation gerichtete Botschaften zu vermitteln. Wird es ihnen aber gelingen, ihre Geldpolitik nicht vorzeitig wieder zu lockern, wenn sich die Wirtschaft im eigenen Land abschwächt?
Bei welcher Arbeitslosenquote wäre eine Rückkehr der
US-Inflation zum Zielwert der Fed möglich? Nach ihren Streudiagrammen zu
urteilen, sind einige Mitglieder des Offenmarktausschusses der Fed der Meinung,
dass die Arbeitslosenquote auf 4,1 Prozent – 0,5 Prozentpunkte mehr
als zur Zeit – zunehmen müsste, um die Inflation zu stabilisieren. Einen
solchen Anstieg hat es bisher nur in einer Rezession gegeben. Diese Schätzungen
sind unsicher, bestärken die Anleger aber in der Überzeugung, dass die Zähmung
der Inflation vielleicht eine Rezession in den USA bedeutet. Die
Bewertungskennzahlen weisen aktuell auf einen starken Konjunkturabschwung,
nicht aber auf eine Rezession hin.
KÖNNTE ES EINEN FLIEGENDEN WECHSEL VON INFLATION ZU DEFLATION GEBEN?
Wer allein auf die Zinssätze blickt, läuft Gefahr zu übersehen, dass die
Geldpolitik durch die allgemeinen Finanzierungskonditionen diktiert wird. Und
auf diese haben die Notenbanken erheblichen Einfluss. Die Fed hat im Juni 2022
mit der Verkürzung ihrer Bilanz begonnen, und zwar viel schneller als bei ihrer
ersten quantitativen Straffung im Jahr 2018, die eine Verschärfung der
Finanzierungskonditionen zur Folge hatte. Wie im vierten Quartal 2018 können
wir auch jetzt nicht ausschließen, dass die Notenbanken vor ein weiteres
Dilemma gestellt werden, wenn die Märkte abrutschen. Sollten die Notenbanken
dann eine Kehrtwende vollziehen und die Geldpolitik lockern, um die Märkte zu
retten? Damit würden sie ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen, die in den
letzten Monaten im Zuge der Bekämpfung der Inflation ohnehin schon gelitten
hat.
Angesichts der hohen Schulden, die im privaten Sektor
angehäuft wurden, würde ein Absturz der Märkte infolge einer
Liquiditätsabschöpfung durch die Notenbanken einen massiven Schuldenabbau
auslösen, der zu einem fliegenden Wechsel von Inflation zu Deflation führen
könnte. Die EZB sucht nach einer Strategie, mit der sie einer Fragmentierung
der Eurozone entgegenwirken und gleichzeitig die Finanzierungskonditionen straffen
sowie die Kontrolle über die Spreads der Peripherieländer behalten kann. Es
lässt sich noch nicht sagen, ob sie damit Erfolg haben wird. Doch die
Notenbanken sind geschickt darin, mit innovativen Maßnahmen ihre
Inflationsziele zu erreichen, ohne die Finanzstabilität zu gefährden.
DIE WELTWIRTSCHAFT IST ANGESCHLAGEN, ABER NICHT AM ENDE
Die Tatsache, dass die Notenbanken mit der Straffung ihrer Geldpolitik spät
dran sind, war noch nie so offensichtlich wie jetzt. Die Risiken sind
allerdings hoch; denn es fällt nicht schwer, sich düstere Szenarien
vorzustellen, in denen die Notenbanken entweder zu lasch oder so restriktiv
handeln, dass sie an den Finanzmärkten einen Crash auslösen. Sie müssen
wohlüberlegt vorgehen, um ihre Ziele zu erreichen, ohne allzu großen Schaden
anzurichten. Die gute Nachricht ist, dass sie aufholen und die Weltwirtschaft
trotz der aktuell turbulenten geopolitischen und marktwirtschaftlichen
Rahmenbedingungen zwar angeschlagen, aber nicht am Ende ist.
In den westlichen Ländern verlangsamt sich das Wirtschaftswachstum, doch China sollte sich erholen. Ein Inflationsrückgang könnte unmittelbar bevorstehen. In den letzten Wochen sind die Rohstoffpreise allesamt deutlich zurückgegangen, während sich die Märkte über das Wirtschaftswachstum Sorgen machen. Und obwohl es Engpässe gibt, haben manche Sektoren möglicherweise zu hohe Lagerbestände aufgebaut, was Lieferungen erleichtern könnte und wodurch ein Abwärtsdruck auf die Preise möglich ist.
Bis auf Weiteres bleiben wir bei einer vorsichtigen Positionierung, beobachten aber die Entwicklung im Hinblick auf eine Ausweitung unserer Engagements. Es bieten sich zahlreiche Anlagechancen in den Schwellenländern, bei High-Yield-Anleihen und Aktien.