Metzler: Mit Planierraupen auf Wirtschaftsförderung
Eine Auseinandersetzung um die künftige Richtung der chinesischen Wirtschaftspolitik treibt die Führung des Landes um. Präsident Xi Jinping scheint dabei weiter an Einfluss zu gewinnen. Sein Hauptaugenmerk legt er bisher indes nicht auf den Abbau der hohen Schulden, sondern auf eine moderne Version der Seidenstraße. Mithilfe großer Infrastrukturvorhaben in über 60 Staaten hofft er, der Volksrepublik eine bessere Anbindung an Europa und Zugang zu neuen Märkten zu verschaffen.12.09.2016 | 13:53 Uhr
Der anonymen "Person mit Autorität" wurde reichlich Platz eingeräumt für ihre Kritik. China stecke in der Klemme: "Die Wirtschaft steht unter Abwärtsdruck, gleichzeitig ist die Realwirtschaft in hohem Maße verschuldet", stand da Anfang Mai prominent auf der Titelseite von "People’s Daily", einem Sprachrohr der Kommunistischen Partei. Im Westen mag sich das wenig revolutionär anhören, doch so deutliche Worte waren in den offiziellen Verlautbarungen chinesischer Politiker bisher nur selten zu hören, schon gar nicht an solch exponierter Stelle. Der anonyme Experte, die einzige Quelle des umfangreichen Artikels, rügte entschieden: "Eine hohe Verschuldung bringt unweigerlich hohe Risiken mit sich, die, ohne geeignetes Management, eine systemische Finanzkrise verursachen können, damit negatives Wirtschaftswachstum auslösen und sogar die Ersparnisse des Volkes aufzehren. Und das ist verhängnisvoll." Und schließlich die Warnung, dass das Land für seine weitere Wirtschaftsentwicklung nicht auf rasche Besserung hoffen dürfe, weder eine U- und schon gar keine V-Kurve zu erwarten sei, die einen raschen Wiederanstieg des Wirtschaftswachstums signalisieren würde. "Sie wird die Form eines L haben, für mehr als ein oder zwei Jahre."
Debatte über Chinas hohe Schulden
Der prominente Beitrag vom Mai hat einiges Rätsel¬raten ausgelöst: Wer steckt hinter diesen Aussagen? Gegen wen richten sich die Rügen vorrangig? Warum erfolgt der Vorstoß gerade jetzt? Anonyme Angriffe auf Verantwortliche des Regimes sind in kommunistischen Systemen nicht ungewöhnlich. Binnen eines Jahres erfolgten sie zu Wirtschaftsfragen in China gleich dreimal. Beobachter sind sich einig, dass die Einlassungen des Ungenannten früher einige Auswirkungen auf politische Entscheidungen gehabt hätten. Auch dieser Artikel hat direkt eine Debatte über Chinas hohe Schulden angestoßen. Für die Deuter der Politik in Peking sind solche Seitenhiebe ebenfalls höchst interessant: Sie bieten einen seltenen Einblick in die opake Welt der chinesischen Politik und in die Diskussionen um die richtige politische Ausrichtung.
Zwar vermittelt Chinas politische Führung gerne den Eindruck uneingeschränkter Einigkeit. Tatsächlich seien Differenzen und Machtkämpfe aber ähnlich ausgeprägt wie in einem Mehrparteiensystem, verweisen Experten unter anderem mit Blick auf politische Schriften im Land.
Offenbar heftiger Streit über Neuausrichtung von Chinas Wirtschaftspolitik
Um den künftigen Weg in der Wirtschaftspolitik wird offenbar seit Monaten heftig gestritten. Die Volksrepublik braucht eine Neuausrichtung. Lange hat die wirtschaftliche Öffnung des Landes, angestoßen unter Deng Xiaoping vor bald vier Jahrzehnten, die Entwicklung getrieben – mit großem Erfolg und hohem Wachstum. Doch bereits seit Jahren ist klar, dass diese Strategie nicht länger ausreicht, um Wachstum anzukurbeln. Bereits die vorherige Regierung unter Hu Jintao und Wen Jiabao hat versprochen, dass eine Förderung des Binnenkonsums den Fokus auf Anlage- und Infrastrukturinvestitionen ersetzen solle. An die Stelle der Exportorientierung rücke Innovationsförderung, High-Tech solle die Leichtindustrie ablösen. Die zweistelligen Wachstumsraten früherer Jahre würden sich damit nicht wiederholen lassen, aber doch die Volkswirtschaft auf ein stabileres Fundament stellen. Die Fortschritte indes blieben schleppend.
Traditionell fallen Wirtschaftsfragen in die Zuständigkeit des Staatsrates, dem Premierminister Li Keqiang vorsteht. Doch Präsident Xi Jinping wird ein wachsendes Interesse an dem Ressort nachgesagt. So hat eines jener Projekte, die ihm - neben dem Kampf gegen Korruption und einer harten Position in Territorialfragen in Nordostasien - ganz besonders am Herzen liegen, eine ausgeprägte wirtschaftspolitische Komponente: eine moderne Version der Seidenstraße, genannt "One Belt, One Road" (wörtlich: "Ein Gürtel, eine Straße").
Gerüchten in China zufolge könnte Xi selbst hinter der Breitseite gegen die hohen Schulden im "People’s Daily" stecken. Ihm sei, genau wie seinem engen Vertrauten, dem wirtschaftspolitischen Berater Liu He, der hohe Schuldenstand seit einiger Zeit ein Dorn im Auge. Besonders verärgert habe beide der Eindruck, dass das relativ gute Abschneiden im ersten Quartal, als das Bruttoinlandsprodukt um 6,7 % zulegte, auf Kredit gekauft sei. Nach einem turbulenten Start ins Jahr inklusive Aktien- und Währungskrise stieg die Nettoneuverschuldung in den ersten drei Monaten auf den Rekordwert von 6.200 Mrd. CNY (= 826 Mrd. EUR). Der gesamte Schuldenstand wächst rasant. Die Ratingagentur Fitch schätzte ihn zum Jahresende 2015 auf 243 % des Bruttoinlandsprodukts, fast das Doppelte des Wertes von Ende 2008.
Weder mit dieser Entwicklung noch mit dem Umgang mit den Finanzkrisen der vergangenen Monate seien Xi und Liu zufrieden, ist in Peking zu hören. Auch den Vorstoß Lis, notleidende Kredite in den Bilanzen halbstaatlicher Banken in Beteiligungen an den jeweiligen Konzernen zu wandeln, hielten beide nicht für sinnvoll, heißt es. Liu, der die "Hauptgruppe" zu Finanz- und Wirtschaftsfragen der Kommunistischen Partei leitet, eine bis vor kurzem vor allem im Verborgenen tätige Einheit mit wachsendem politischen Einfluss, stecke hinter dem Artikel, mit ausdrücklicher Billigung des Präsidenten, so eine weitverbreitete Erklärung.
Aber es kursieren auch andere Erklärungen: Xi und Li seien sich durchaus einig, dass ein Abbau der Verschuldung nottue. Mit dem Artikel hätten sie ein Signal setzen wollen an die zuständigen Beamten und öffentlichen Angestellten, sich an die entsprechenden Vorgaben zu halten.
Der Vorstoß bleibt undurchsichtig, womöglich wird er nie aufgeklärt. China-Experten verfolgen seither indes Auftritte und Äußerungen des Wirtschaftsberaters Liu angesichts seines wachsenden Einflusses deutlich genauer.
Die Schuldenfrage ist nur eines der Probleme, das Xi im Rahmen der geplanten ambitionierten Wirtschaftsreformen angehen muss. Rund 340 Initiativen hat seine Regierung beim 18. Kommunistischen Parteikongress 2013 auf den Weg gebracht. Sie reichen von deutlichen Erleichterungen bei der Ein-Kind-Politik bis zu einer umfassenden Landreform.
Neuauflage der Seidenstraße ("OBOR") als gigantisches Infrastrukturvorhaben
Die Seidenstraßeninitiative gilt dabei als Xis Herzensangelegenheit, als das Projekt, an dessen Erfolgen er sich messen lassen will. Vordergründig handelt es sich bei "One Belt, One Road" um eine Neuauflage der historischen Handelsverbindung, eine bessere Anbindung Chinas an Europa und Asien. Als "Straße" wird dabei der Seeweg entlang der südostasiatischen Küste und Indien in Richtung Afrika und weiter ins Mittelmeer bezeichnet. Die Landanbindung über Zentralasien nach Europa hingegen bildet den "Gürtel". Statt des vollen Namens verwenden die von Abkürzungen begeisterten Chinesen gerne das Akronym OBOR.