Notenbanken: 75 sind die neue 25
Joachim Fels, Managing Director und Chefökonom bei PIMCO, ist sich sicher, dass die Währungshüter die Zinsschrauben so lange fester ziehen werden, bis der Inflationstrend über mehrere Monate rückläufig ist – auch wenn dies Rezession und steigende Arbeitslosigkeit bedeutet.20.09.2022 | 07:00 Uhr von «Joachim Fels»
Die Zeiten, in denen die Zentralbanken die Zinssätze nur in Schritten von 25 Basispunkten (BP) anhoben, sind längst vorbei. Sowohl die Europäische Zentralbank (EZB) als auch die Bank of Canada haben jüngst die Leitzinsen um jeweils 75 BP angehoben. Damit sind sie in die Fußstapfen der US-Notenbank Fed getreten, die im Juni und Juli zwei Anhebungen um jeweils 75 BP vorgenommen hat. Nachdem die Verbraucherpreisinflation (VPI) in den USA letzte Woche erneut positiv überrascht hat, wird die Fed wahrscheinlich am Mittwoch und möglicherweise auch im November und Dezember die Zinsschraube weiter anziehen. Außerdem rechnen die Märkte inzwischen mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent, dass sowohl die Bank of England (BoE) als auch die EZB ihren nächsten Schritt mit 75 BP statt mit 50 BP vollziehen werden.
Es liegt auf der Hand, warum 75 BP in dieser Phase des Straffungszyklus die
neue Normalität sind: Angesichts der anhaltenden massiven Inflationsüberschreitung
sind die Zentralbanken sehr darauf bedacht, die langfristigen
Inflationserwartungen zu verankern. Die geldpolitischen Entscheidungsträger
scheinen sich derzeit alle von dem alten Sprichwort leiten zu lassen, dass nur
Falken in den Himmel der Zentralbanker kommen. Daher sind sie entschlossen,
"so lange weiterzumachen, bis die Aufgabe erledigt ist" – wie es
Fed-Chef Jerome Powell formulierte.
Woran werden Zentralbanker und Finanzmarktteilnehmer erkennen, wann die Arbeit
vollbracht und eine Pause angebracht ist? Angesichts der Ungewissheit über die
Höhe des unbeobachteten neutralen Zinssatzes haben die geldpolitischen
Entscheidungsträger deutlich gemacht, dass sie bei der Inflation einen
anhaltenden Abwärtstrend sehen wollen. Ich interpretiere das so, dass die
Kerninflation mindestens mehrere Monate lang rückläufig sein sollte. Ein
solcher Abwärtspfad könnte sich insbesondere in den USA als schwierig erweisen,
da sich die Lohnzuwächse, die eine wichtige Triebkraft für die Inflation im
Dienstleistungssektor sind, beschleunigen und die Aussicht auf einen anhaltend
starken Anstieg der Komponente „Wohnkosten“ des VPI besteht.
Es ist zwar unklar, welches Endniveau der Zinssätze erforderlich ist, um die
Aufgabe zu bewältigen. Aber ich vermute, dass es höher liegt als der Höchstsatz
von 4,25 Prozent, den die Märkte im Moment einpreisen. Ganz klar ist jedoch,
dass die Aufgabe nicht ohne zusätzliche Schmerzen erledigt werden kann.Mehr
Schmerzen auf den Finanzmärkten werden nötig sein, weil die Finanzbedingungen
der Transmissionsmechanismus für die Geldpolitik sind. Mit diesen Schmerzen ist
zu rechnen, wenn die Zentralbanken die Zinsen weiter anheben und die Fed ihre
Bilanz abbaut. Schmerzen auf dem Arbeitsmarkt in Form von steigender
Arbeitslosigkeit sind notwendig, um weiter steigende Löhne zu verhindern.
Sie werden wahrscheinlich als Reaktion auf die bisherige und zukünftige
Verschärfung der finanziellen Rahmenbedingungen auftreten. Die
sprichwörtliche weiche Landung, auf die die Zentralbanker hoffen und von der
die Märkte in den letzten Monaten geschwärmt haben, erscheint mir daher recht
unwahrscheinlich.
Trotz einer wahrscheinlichen harten Landung in Form einer Rezession in den
Volkswirtschaften der Industrieländer ist eine schnelle Umstellung der Zentralbanken
von Zinserhöhungen auf Zinssenkungen sehr unwahrscheinlich - es sei denn,
es kommt zu einem größeren Zusammenbruch der Finanzmärkte oder einem massiven
Ausbruch einer "makellosen Disinflation" aus dem Nichts. Die
Zentralbanker werden darauf bedacht sein, die Fehler der Stop-Go-Politik der
1970er Jahre zu vermeiden, als ihre Amtsvorgänger bald nach Erreichen des
Inflationsgipfels den Kurs änderten und damit den Boden für den nächsten
Inflationsschub zu noch höheren Spitzenwerten bereiteten. Ein langes Plateau
der Zinssätze auf höherem Niveau erscheint mir daher wahrscheinlicher als die
Zinswende der Fed, die in der Terminkurve für das nächste Jahr eingepreist
ist.
Dies bringt mich zu meinem letzten Punkt, den wir bereits in unserem Ausblick
zu Beginn dieses Jahres hervorgehoben haben: Die kommende Rezession dürfte
zwar relativ flach ausfallen, da es im Privatsektor keine größeren
Ungleichgewichte gibt. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass ihr ein
V-förmiger Aufschwung folgt. Die Zentralbanken werden aufgrund der
hartnäckigen Inflation nicht in der Lage sein, die Geldpolitik in absehbarer
Zeit in nennenswertem Umfang zu lockern. Außerdem werden weniger
Sicherheitsnetze für die Finanzmärkte existieren, da die Zentralbanken nicht
mehr so schnell und heftig zur Hilfe kommen werden wie in den letzten
Jahrzehnten. Der Winter naht.