Pictet AM: Der lange und kurvenreiche Weg zur Netto-Null
Professor Vaclav Smil, eine internationale Kapazität auf dem Gebiet der Energiewende, hat sich einen Namen gemacht, weil er schonungslos die Fakten auf den Tisch legt. In diesem Beitrag präsentiert er einige knallharte Wahrheiten über die globalen Dekarbonisierungsziele.07.11.2023 | 06:55 Uhr
Der globale ökologische Wandel stellt uns vor eine noch nie
dagewesene Herausforderung: Um das Schlimmste zu verhindern, müssten
mindestens 20 der grössten Volkswirtschaften der Welt über mehrere
Jahrzehnte hocheffizient zusammenarbeiten. Wir dürfen nicht
vergessen, dass beispielsweise 100 Millionen Vietnamesen jährlich
weniger als 0,5% der globalen und weniger als 2% der chinesischen
Treibhausgasemissionen (jeweils auf das Jahr bezogen) produzieren.
Selbst wenn Vietnam ein schneller Umstieg gelingen und vollständig
emissionsfrei werden würde, wäre dieses Opfer kaum mehr als eine
Nachkommastelle in der Gesamtrechnung. Und da die Wirkung von
Treibhausgasen von ihrer absoluten atmosphärischen Konzentration und
nicht von irgendeinem relativen Mass abhängt, sind alle kleineren
Emittenten – als Nationen und nicht nur als Individuen – machtlos, wenn
nicht die ganze Welt an einem Strang zieht. Dass dies gelingt, ist
annähernd so wahrscheinlich (oder unwahrscheinlich), als dass China und
die USA alle beide in naher Zukunft Opfer bringen.
Der
grundlegende Fehler besteht darin, die globale Dekarbonisierung als
blosses weiteres Einzelereignis zu betrachten, das durch gezielte
technische Lösungen angegangen werden könnte, wie z. B. die Umstellung
von Festnetz auf Mobiltelefonie oder von Gasheizungen auf Wärmepumpen.
In Wirklichkeit erfordert die globale Dekarbonisierung eine
grundlegende Umstrukturierung der elementarsten und komplexesten
Aktivität der Welt, nämlich der Energiebereitstellung und -nutzung. Das
Vorhaben ist daher um Welten komplizierter und teurer, denn es betrifft
alle Bereiche, von Düngemitteln bis hin zum Düsenjet, von Stahl bis hin
zu Kunststoffen, von der Getreideernte bis hin zum interkontinentalen
Containertransport. Die Grössenordnung ist schier unmesslich, denken wir
nur an die Milliarden von Tonnen und Billionen von Kubikmetern und
Kilowattstunden. Hier sind schrittweise Fortschritte über mehrere
Jahrzehnte hinweg notwendig. Der Prozess kann beschleunigt werden, aber
er kann nicht durch willkürliche Szenarien zum Abschluss gebracht
werden, die sich die Bürokraten in Paris oder Brüssel ausgedacht haben,
noch dazu mit utopischen Fristen.
Die erste grüne Lösung war die Stromerzeugung aus Wasserkraft. Das
erste kleine Wasserkraftwerk wurde 1882 in Betrieb genommen. Im selben
Jahr baute Edison sein erstes kohlebefeuertes Kraftwerk, das sich ein
Jahrhundert lang grosser Beliebtheit erfreute. Doch dann änderten sich
die Einstellungen, Wasserkraft wurde zu einem Umweltproblem und
schliesslich stellte die Weltbank die Finanzierung neuer Projekte in
einkommensschwachen Ländern mit grossen verbleibenden
Wasserkraft-Kapazitäten ein. Das ist sehr bedauerlich, denn die Welt –
die reichen und die armen Länder − verfügt immer noch über jede Menge
Möglichkeiten, ganz viele kleine Wasserkraftwerke zu bauen, deren
Kapazitäten zusammengenommen eine willkommene Ergänzung zu Erzeugung von
Strom aus intermittierenden Quellen wären. China hat natürlich munter
in gigantischem Massstab weitergebaut, da Wasserkraft zu einem
kritischen Teil seiner Stromversorgung geworden ist. Warum sollte
Afrika, das ebenfalls grosses Wasserkraftpotenzial besitzt, nicht die
gleiche Chance bekommen?
Die meisten Menschen scheinen das Ausmass der Ineffizienz und
der Verschwendung bei ihren Aktivitäten nicht zu erkennen, insbesondere
in puncto Energien, die Teil der Versorgung mit lebensnotwendigen
Gütern sind. Hier drei Beispiele, die das verdeutlichen: Wir
pumpen, reinigen (oder entsalzen) und verteilen Trinkwasser, verlieren
aber häufig 30–40 Prozent durch undichte Rohre und defekte
Sanitärinstallationen.
Wir synthetisieren und bringen
Stickstoffdünger aus (zu sehr hohen Energiekosten) und verlieren dann
oft 50–70 Prozent des Stickstoffs nach dem Ausbringen. Und wir erzeugen,
verarbeiten und verteilen Erdgas, um Häuser zu heizen, und verlieren
dann einen grossen Teil dieser Wärme durch einfach verglaste Fenster und
schlecht isolierte Wände. Ich könnte immer so weitermachen. Eine
rational denkende Gesellschaft würde zunächst versuchen, ihre massiv
ineffizienten Methoden auszubessern anstatt neue Energiequellen
anzuzapfen, mit denen sich die bestehenden Ineffizienzen fortsetzen.
Die am meisten gehypten grünen Erfindungen der letzten Jahre ...? Die Liste ist lang. Ich
beschränke mich auf drei hervorstechende Beispiele. Kernfusion: 2022,
nach einigen wichtigen experimentellen Fortschritten, trotz derer die
Technik noch Jahrzehnte von einem rentablen kommerziellen Einsatz
entfernt war, wurde uns erneut (irrtümlicherweise) weisgemacht, dass wir
ganz nah an der ultimativen Energielösung seien. Kleine modulare
Kernreaktoren: Ich hörte Alvin Weinberg, der als junger Mann am
Manhattan-Projekt beteiligt war und später Leiter des Oak Ridge National
Laboratory wurde, 1982 zum ersten Mal darüber sprechen. Wenn auf jede
Ankündigung einer bevorstehenden Einführung in den vergangenen vier
Jahrzehnten ein kommerzieller Kleinreaktor käme, wüsste die Welt jetzt
nicht, was sie mit all dieser Energie anfangen sollte.
Kohlenstoffbindung durch freiliegendes Mantelgestein (z. B. im Oman):
Theoretisch könnte solches Gestein anthropogene CO2-Emissionen von
mehreren hundert Jahren speichern, in der Praxis ist das völlig am
Bedarf vorbei. Doch wie liesse sich das im erforderlichen Massstab
realisieren? Um nur 10% des gesamten CO2-Ausstosses aus der Verbrennung
fossiler Brennstoffe zu binden, müssten wir eine neue globale Industrie
entwickeln, die jährlich dieselbe Menge an CO2 verarbeiten könnte wie
die globale Masse der Rohölproduktion. Und der Prozess müsste in die
entgegengesetzte Richtung gehen, indem enorme Mengen an Geld und Energie
aufgewendet würden, um Billionen Tonnen hochkritisches flüssiges CO2
unter Tage statt hochprofitables Öl über Tage zu bringen.
Einblicke für Investoren
- Uns ist bewusst, dass die Umstellung auf saubere Energie ein komplexer und langwieriger Prozess ist, der nicht nur Unternehmen in der Stromerzeugung, sondern auch in den Bereichen Verkehr, Fertigung, Bauwesen, IT und Energieinfrastruktur betrifft. Dadurch ergeben sich Investmentchancen in der gesamten Wertschöpfungskette. Die jährlichen Investitionen in saubere Energie dürften sich bis 2030 auf mehr als 4 Bio. US-Dollar verdreifachen.
- Erneuerbare Energien sind bereits in den meisten Teilen der Welt die günstigste Stromquelle. Die Internationale Energieagentur geht davon aus, dass der Anteil von Wind- und Solarenergie an der weltweiten Stromerzeugung bis zum Jahr 2050 auf 70% ansteigen wird (2021: 10%). Der breite Einsatz intermittierender erneuerbarer Energien ist jedoch eine grosse Herausforderung und erfordert ein Umdenken im Bereich des Lastmanagements und der Optimierung der Wechselwirkungen zwischen der Stromerzeugung und anderen Sektoren, insbesondere Elektrofahrzeuge und Beheizung privater Haushalte.
- Für Versorgungsunternehmen besteht die Herausforderung darin, die Infrastruktur auf Haushalts- und breiter Netzebene aufzurüsten sowie den Grad der Digitalisierung und Konnektivität zu erhöhen, um das Netzmanagement und die Flexibilität zu verbessern. Dadurch eröffnen sich Geschäftschancen sowohl im Hardware- als auch im Softwarebereich, also Softwareprogramme, Halbleiter, Energiemanagementkomponenten usw.
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