RBC BlueBay: Polinas Ansichten | Indien - der Elefant im Raum
Mögen Sie Sport? Ich bin zwar keine Expertin, aber ich habe den Eindruck, dass die Schwellenländer in letzter Zeit im Sport weitaus besser abschneiden als bei der Bewältigung ihrer wirtschaftlichen Probleme.29.11.2023 | 10:18 Uhr
Es ist zwar schön zu beobachten, dass Argentinien und Südafrika bei den Fußball- bzw. Rugby-Weltmeisterschaften gut abschneiden, aber ich fürchte, dass die Anleger mehr Tore auf dem wirtschaftlichen Feld benötigen, um Kapitalströme in diese Schwellenländer zu lenken.
Indien scheint jedoch eines der Länder zu sein, die sich dem Trend widersetzen. Trotz der jüngsten Niederlage bei der Cricket-Weltmeisterschaft hat sich das Land erstaunlich gut geschlagen, wenn es darum geht, die aktuellen wirtschaftlichen und geopolitischen Unsicherheiten zu bewältigen. Wir sind konstruktiv gegenüber indischen Unternehmensanleihen in Hartwährung und haben eine neutral Haltung gegenüber Anleihen in lokaler Währung, was vor allem auf die Bewertungen zurückzuführen ist. In den vergangenen zwei Jahren trugen die Schwellenländer (“EM”) 50 % zum weltweiten BIP-Wachstum bei. China trug nichts zu diesem Wachstum bei, während Indien mit einem BIP-Wachstum von 16 % den größten Beitrag leistete. Zusammen mit Indonesien, Mexiko, Brasilien und Polen waren diese fünf Länder für die Hälfte des gesamten BIP-Wachstums der Schwellenländer in diesem Zeitraum verantwortlich. Vor einigen Wochen habe ich Indien besucht, um die Risiken und Chancen in einer der wachstumsstärksten Volkswirtschaften der Welt zu erkunden.
Was ist das Geheimnis des indischen Erfolgs? Nach meinem jüngsten Besuch in dem Land würde ich dies auf sechs Hauptgründe zurückführen:
Erstens das Thema Demografie. Indien ist das bevölkerungsreichste Land der Welt und stellt ein Sechstel der gesamten Weltbevölkerung. Während der Rest der Welt mit einem Arbeitskräftemangel zu kämpfen hat, profitiert Indien von einem ausgeprägten demografischen Vorteil. Da 70 % der Bevölkerung erwerbstätig sind und die Arbeitskosten niedriger sind als in China, hat Indien denjenigen Ländern, die seit einiger Zeit mit einem Arbeitskräftemangel zu kämpfen haben, Lösungen angeboten, indem es seine Produktion ausweitete, um die Lieferkette zu vereinfachen oder die Arbeitskräftelücke zu schließen.
Der zweite Grund ist die geografische Lage, d. h. die Nähe zum Nahen Osten. Die Reise von Mumbai nach Abu Dhabi ist kürzer als die von Mumbai nach Delhi, was Indien in den Augen seiner Nachbarn im Nahen Osten zu einem attraktiven Zielmarkt macht. Dies und die verbesserten Beziehungen zu Ländern wie Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten und Israel, um nur einige zu nennen, haben Indien zu einer neuen Macht im Nahen Osten erstarken lassen.
Der dritte Punkt ist der Rückgang Chinas, der zum geopolitischen Vorteil Indiens führte. Indien hat von den zunehmenden geopolitischen Spannungen zwischen China und dem Westen profitiert, indem es sich als alternatives Investitionsziel anbietet. China wird von einer eher strukturellen zu einer taktischen Allokation für die Kapitalströme der Anleger, und Direktinvestitionen werden jenseits der Grenze getätigt, wobei Unternehmen und Produktionsanlagen nach Indien verlagert werden. Internationale Marken verstärken ihre Präsenz, auch im Einzelhandel. So eröffnete Apple Anfang des Jahres sein erstes Ladengeschäft in Mumbai, und weitere werden folgen. An der geopolitischen Front ist es Indien gelungen, inmitten globaler Konflikte erfolgreich zu navigieren und seine Neutralität weitgehend zu bewahren sowie eine relative politische Stabilität aufrechtzuerhalten, wobei die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr als belanglos betrachtet werden.
Der vierte Punkt ist Indiens Fokussierung auf die Infrastruktur. Die Regierung hat die jährlichen Haushaltsausgaben für den Infrastruktursektor in den vergangenen vier Jahren auf 3 % des BIP verdreifacht. So hat sich die Zahl der Autobahnen in den letzten zehn Jahren verdoppelt, und auch die Eisenbahn- und Schifffahrtsnetze haben von den höheren Investitionen profitiert. Aktuell rangiert Indien mit seinen geplanten Investitionen in die Infrastruktur in Prozent des BIP nach China, Indonesien und Australien auf Rang vier weltweit. Im Vergleich dazu kommen die USA auf lediglich 1,5 % des BIP für Infrastrukturinvestitionen, was einer Investitionslücke von 0,7 % entspricht. Indien genießt darüber hinaus einen Finanzierungsvorteil, da das Haushaltsdefizit zu 100 % aus inländischen Mitteln finanziert wird.
Fünftens: Indiens Fortschritte auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien. Indien verfügt über die größte Solarkapazität der Welt und ist das einzige EM-Land, das die COP27-Ziele erreicht hat. Bei einem jährlichen Wachstum des Strombedarfs von 8-9 % fordert die Regierung von ihren Erzeugern erneuerbarer Energien ein neues Hybridmodell, das sowohl Wind- als auch Solarenergie liefert, um eine ununterbrochene Energieversorgung zu gewährleisten. Indiens Kapazität an nicht-fossilen Brennstoffen hat sich in den vergangenen acht Jahren vervierfacht und hat mittlerweile einen Anteil von 43 % an der gesamten Stromkapazität des Landes. Indien ist ein Paradebeispiel für ein Land, dem es gelungen ist, sein Wirtschaftswachstum von den Treibhausgasemissionen zu entkoppeln, wobei letztere seit dem Jahr 2009 um 33 % gesunken sind.
Nicht zuletzt konzentriert sich das Land darauf, die Vorschriften für die lokale Vermögensverwaltungsbranche zu verbessern und Ausländern den Zugang zu den indischen Finanzmärkten zu erleichtern. Nach einer Reihe von Krisen in der Vergangenheit - zuletzt im Sektor der Nicht-Bank-Finanzinstitute (NBFC) mit dem Zusammenbruch von IL&FS im Jahr 2018 - lernen die indischen Regulierungsbehörden aus ihren Fehlern. Mittlerweile werden die 10-15 größten NBFCs nahezu wie Banken eingestuft und reguliert, während die von der Aufsichtsbehörde SEBI auferlegten Transparenzregeln für inländische Vermögensverwalter sogar noch strenger sind als in den westlichen Industrienationen. Ich war zum Beispiel überrascht, als ich erfuhr, dass einheimische Vermögensverwalter von neun Uhr morgens bis 17 Uhr abends sämtliche Sitzungen protokollieren müssen. Erfreulicherweise gibt es auch eine Arbeitsgruppe, die sich mit der Ausarbeitung einer Reihe von Vorschriften befasst, die den ausländischen Zugang zum inländischen Markt erleichtern sollen, bevor Indien voraussichtlich im nächsten Jahr in den GBI-Index aufgenommen wird.
Was könnte Indien bei so viel Rückenwind daran hindern, zusätzliches Kapital anzuziehen? Eine der Herausforderungen sind die aktuellen Aktienbewertungen. Indien ist nach den USA der zweitteuerste Aktienmarkt der Welt. Obwohl der Leitzins im globalen Vergleich nur moderat gestiegen ist (die Zentralbank hat den Leitzins um 2,5 % auf 6,5 % angehoben), bezeichnen die Unternehmen Zinserhöhungen als eines der Hauptrisiken für ihre Wachstumsziele. Der Verschuldungsgrad ist insgesamt überschaubar: Die öffentliche Verschuldung im Verhältnis zum BIP liegt bei rund 80 % und die private Verschuldung bei 50 %.
In einigen Sektoren, wie beispielsweise den erneuerbaren Energien, ist der Verschuldungsgrad bei gewissen Emittenten jedoch hoch, was eine Herausforderung für das Erreichen der künftigen Wachstumsziele darstellen könnte. Eine weitere Herausforderung ist die strukturelle Inflation. Die Zentralbank verfolgt ein flexibles Inflationsziel, wobei das Wachstum eine wichtige Rolle spielt, da der Schwerpunkt unverändert auf der Verringerung der Armutsquote im Land liegt. Die derzeitige Inflationsrate von unter 5 % ist zwar relativ stabil, doch könnte sich die Bereitschaft zur Einhaltung einer restriktiven Geldpolitik in Zukunft in Grenzen halten, sollte sich der Inflationstrend ändern.
Im Jahr 2022 beliefen sich die Ausfuhren Chinas in die USA auf 536 Mrd. USD, verglichen mit 85 Mrd. USD aus Indien. Sollte der Rückgang der chinesischen Exporte eher struktureller Natur sein, könnte die von der Produktionsseite ausgehende Inflation weiter unter Druck geraten.
Da beispielsweise die US-Regierung Anfang des Jahres mehr als 1.000 Lieferungen von Solarkomponenten aus China blockiert hat, wird die Nachfrage nach Solarmodulen aus Indien voraussichtlich weiter zunehmen. Dies hat in diesem Jahr bereits zu einem Anstieg der Stückkosten von Solarpaneelen um 40 % geführt, und auch in Zukunft ist mit weiteren Steigerungen zu rechnen.
Sollte sich dieses Thema als strukturelles Problem erweisen, wird sich der Druck der globalen Zentralbanken, die Zinsen länger hoch zu halten, nicht nur auf Indien, sondern auch auf andere Schwellenländer auswirken.
Aus der “Bottom-up”-Perspektive erkennen wir auch, dass ausgewählte indische Großunternehmen in Bedrängnis geraten, nämlich der Mischkonzern Adani aufgrund überhöhter Aktienbewertungen und der Bergbaugigant Vedanta aufgrund seiner Überschuldung. Dennoch sehen wir kein Ansteckungsrisiko für den inländischen Bankensektor oder die Vermögensverwaltungsbranche, da beide Sektoren nur in begrenztem Umfang betroffen sind.
Diese Probleme müssen zwar beobachtet werden, es ist jedoch schwer vorstellbar, dass ein Land die strukturellen und konjunkturellen Herausforderungen der letzten Jahre besser bewältigt hat als Indien und darüber hinaus trotz zusätzlicher Belastungen im Zusammenhang mit Covid und erhöhter geopolitischer Risiken gestärkt daraus hervorging.
Der indische Markt für festverzinsliche Wertpapiere ist zwar derzeit fair bewertet, aber aufgrund des konstruktiven fundamentalen Umfelds würden wir jede Verwerfung als Chance für den Aufbau zusätzlicher Positionen nutzen. Als Anleger würden wir auch gerne mehr "Elefanten im Raum" wie Indien sehen, die sich in zukünftige Anlagemöglichkeiten verwandeln könnten.
Als die südafrikanische Rugby-Mannschaft in diesem Jahr die Weltmeisterschaft gewann, kommentierte ein Sprecher, dies sei ein "Vehikel der Inspiration für das Land" gewesen und habe "gezeigt, wie das Land aussehen kann". Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, dass die Staats- und Regierungschefs der Schwellenländer ebenfalls Gründe für Optimismus hinsichtlich der wirtschaftlichen Aussichten liefern und eine Vision dafür aufzeigen, wie ihre Volkswirtschaften in Zukunft aussehen können.