Renommierter Finanzprofi fordert: Man sollte das Bundesverfassungsgericht ernstnehmen

Titel der Publikation: Man sollte das Bundesverfassungsgericht ernstnehmen
Veröffentlichung: 08/2020
Autor: Marcel Fratzscher
Auftraggeber: Project Syndicate
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Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gegen das von der Europäischen Zentralbank vor der Pandemie verfolgte Anleihekaufprogramm hat Politiker und andere Beobachter außerhalb Deutschlands schockiert. Von Marcel Fratzscher, Präsident des DIW Berlin.

11.08.2020 | 08:00 Uhr

Viele werden versucht sein, die Entscheidung entweder komplett zu ignorieren oder die juristische Auseinandersetzung mit dem BVerfG eskalieren zu lassen. Doch wären beide Ansätze kontraproduktiv. Die Lage erfordert eine ernste Debatte über das Mandat der EZB und die bestehenden europäischen Verträge.

Konkret hat das BVerG die EZB beschuldigt, gegen den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verstoßen zu haben, da sie für ihr Programm zum Ankauf von Staatsanleihen (PSPP) keine ordnungsgemäße „Verhältnismäßigkeitsprüfung“ durchgeführt habe. Aus Sicht des Gerichts ist das PSPP mehr als ein geldpolitisches Instrument; es ist eine umfassendere wirtschaftspolitische Maßnahme, die Kleinsparern, Steuerzahlern und einzelnen Branchen ungerechtfertigte Kosten auferlegt. Insofern ist das BVerfG der Ansicht, dass die EZB sich an die Grenze einer verbotenen monetären Finanzierung der Regierungen der Mitgliedstaaten herangetastet oder diese bereits überschritten hat.

Auch wenn dies nicht das erste Mal ist, dass sich das BVerfG die EZB vorgenommen hat, stellt die jüngste Entscheidung eindeutig eine Intensivierung des Konflikts dar. Ohne Verhältnismäßigkeitsprüfung seitens der EZB ist es der Bundesbank damit künftig untersagt, sich am PSPP zu beteiligen; dies hat potenziell weitreichende Folgen für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU).

Es gibt an der Entscheidung eine Menge zu kritisieren, nicht zuletzt ihr mangelndes wirtschaftliches Verständnis bezüglich der Geldpolitik. Tatsächlich führt die EZB jedes Mal, wenn sie ihre Quartalsprognosen veröffentlicht, eine regelmäßige, breit angelegte Prüfung der Auswirkungen ihrer Politik durch. Darüber hinaus ist Preisstabilität in einer Volkswirtschaft, in der die Sparer enteignet wurden, Zombiefirmen florieren und das Bankensystem zusammengebrochen ist, unerreichbar. Indem das BVerfG von der EZB die von ihm geforderte Art von Prüfungen verlangt, provoziert es einen gefährlichen Konflikt zwischen europäischem und deutschem Recht. Es überrascht nicht, dass viele Ökonomen und Rechtswissenschaftler die Argumente des BVerfG als völligen Unsinn bezeichnet haben.

Trotzdem müssen die europäischen Institutionen die Herausforderung des BVerfG ernstnehmen; tun sie es nicht, könnte das katastrophale Folgen haben. Da das BVerfG schon lange die Mission verfolgt, die Politik der EZB in Frage zu stellen, gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass das Gericht es bei seiner jüngsten Entscheidung belassen wird. Wichtiger noch: Es lässt sich nicht ignorieren, dass die Argumente des Gerichts bei vielen deutschen Ökonomen, Politikern und Wählern auf Widerhall stoßen. Es herrscht im deutschen Mainstream die feste Überzeugung, dass die EZB nicht im Interesse Deutschlands handelt. Besonders seit der globalen Finanzkrise von 2008 kritisiert ein wachsender Chor nicht nur die Anleihekaufprogramme der EZB, sondern auch ihre Zins- und Sicherheitenpolitik und sogar ihr TARGET2-Zahlungssystem.

Diese sich verstärkende Stimmung innerhalb der Bevölkerung hat die Glaubwürdigkeit der EZB in Deutschland stetig ausgehöhlt. Das ist kein Problem, dass man einfach so wegwischen kann. Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind die wichtigsten Aktivposten einer Notenbank; ohne sie kann sie ihren Auftrag nicht erfüllen. Die EU und die Regierungen der übrigen Mitgliedstaaten können daher das BVerfG und die Interessen, für die es spricht, nicht länger ignorieren.

Zunächst einmal muss die EZB begreifen, was das BVerfG (und die deutsche Öffentlichkeit) von ihr erwarten. Die Rüge des Gerichts, wonach die bestehende Geldpolitik spezifischen Gruppen Kosten auferlegt, impliziert, dass die Preisstabilität seiner Ansicht nach nicht das primäre Ziel der EZB sein sollte. Das BVerfG verlangt im Wesentlichen, dass die EZB einen anderen Auftrag verfolgt.

Nun ist das BVerfG sicher nicht befugt, eine derartige Änderung zu verlangen. Doch um einer tiefergehende Krise zu vermeiden, muss die EZB die deutsche Öffentlichkeit überzeugen, dass die Preisstabilität aus gutem Grund ihr primäres Ziel ist und dass sie nicht einfach beschließen kann, bestimmte Regierungen zu disziplinieren oder eine Politik zu favorisieren, von der die deutschen Sparer und Banken profitieren würden. Dieses Problem wird sich nicht durch das übliche Verfahren der EZB zur Überarbeitung ihrer Strategie beilegen lassen.

Das BVerfG stößt sich zudem am Element der Risikostreuung, das allen politischen Entscheidungen der EZB innewohnt. Die Geldpolitik hat immer Verteilungskonsequenzen innerhalb von Gesellschaften und, in der Eurozone, auch länderübergreifend. Doch die vorherrschende Sicht innerhalb Deutschlands ist, dass die Politik der EZB seit 2008 darauf ausgelegt ist, auf Kosten Deutschlands den schwächeren südeuropäischen Ländern zu nutzen. Um es noch einmal zu sagen: Es mag verführerisch sein, dieses Argument als Unsinn zu verwerfen (was zutrifft) und darauf zu verweisen, dass Deutschland von der EZB-Politik des vergangenen Jahrzehnts genauso sehr profitiert hat wie andere. Aber das löst den Konflikt nicht.

Schließlich hat die EZB ein außergewöhnliches Maß an Verantwortung für die Wahrung von Wirtschafts- und Finanzstabilität übernommen – zuerst während der Krise von 2008, dann während der anschließenden europäischen Schuldenkrise  und jetzt in Reaktion auf COVID-19. Mit einer sachgemäßen Fiskal- und Kapitalmarktunion zur Stärkung der Risikostreuung ließen sich die Divergenzen innerhalb der Eurozone verringern, was es der EZB erlauben würde, sich von Staatsanleihekäufen und anderen Interventionen zu verabschieden. Doch wird es dazu vermutlich so schnell nicht kommen; d. h. die EZB wäre gut beraten, ihre Strategie anzupassen.

Die EZB sollte ihre Definition der Preisstabilität und ihre Methode zur Analyse der Auswirkungen der Geldpolitik anpassen – nicht dem BVerfG zu Gefallen, sondern um mehr Transparenz zu schaffen. Dies könnte zumindest für den Moment dazu beitragen, ihre operative, institutionelle und rechtliche Unabhängigkeit zu schützen. Langfristig jedoch können die EU und die Regierungen der Mitgliedstaaten die deutsche Position nicht ignorieren. Trotz mehrerer ernster Schwächen und Widersprüche in seiner Urteilsbegründung wirft das BVerfG legitime und wichtige Fragen bezüglich des geldpolitischen Mandats der EZB und ihrer Rolle innerhalb der EWWU auf.

Im Idealfall wird die EU die Entscheidung des BVerfG als Weckruf begreifen, auf eine praktikable Fiskal- und Kapitalmarktunion hinzuarbeiten und die Rolle der EZB darin klarzustellen. Dies wird eine rasend schwierige Veränderung des EU-Vertrags erfordern. Doch die Alternative wäre viel schlimmer.

Über den Autor

Marcel Fratzscher war Abteilungsleiter bei der Europäischen Zentralbank und ist heute Präsident des DIW Berlin und Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität Berlin.

Copyright: Project Syndicate

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