William Blair: Indiens Wake-Up Call

Um die Wachstumsaussichten für Indien zu verbessern, muss eine Schlüsselfrage beantwortet werden: Wie kann sich Indien von China abheben? In dieser Folge von The Active Share erörtern Hugo und Raghuram Rajan, Professor für Finanzen an der Booth School of Business der Universität Chicago, was nötig wäre, damit sich Indien zu einer globalen Wirtschaftsmacht entwickeln kann.

27.06.2024 | 11:02 Uhr

Die Kommentare sind bearbeitete Auszüge aus unserem Podcast, den Sie hier in voller Länge anhören können.

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Wie kann Indien sein Wachstumspotenzial erreichen?

Raghuram: Im 20. Jahrhundert verfolgten Länder wie Japan, Korea und China einen Entwicklungspfad, der sich auf die Produktion von Gütern mit geringer Wertschöpfung (für den Export) konzentrierte.

Dies war in Indien jedoch nicht der Fall. Das verarbeitende Gewerbe des Landes war nie auf den Export ausgerichtet, und der Anteil der Beschäftigten in diesem Sektor ist in den letzten vier Jahrzehnten kaum gestiegen. Die indische Regierung hat zwar die Infrastruktur ausgebaut, aber es ist unklar, wie Indien ohne einen starken Produktionssektor wachsen soll, denn dieser Wachstumspfad ist heute viel schwieriger.

Aber es könnte einen ganz anderen Weg geben, den noch kein Land versucht hat: den Aufstieg des Dienstleistungssektors. Indien hat einen besonders starken Dienstleistungssektor in Branchen wie Informationstechnologie (IT), Einzelhandel, Recht, Beratung, Logistik und Sicherheit, und die Dienstleistungsexporte sind seit der Pandemie enorm gestiegen.

Hat Indien in der heutigen Dienstleistungslandschaft das Zeug dazu, Dienstleistungen von Weltklasse zu produzieren?

Raghuram: Der Wettbewerb im Dienstleistungssektor ist gering, aber viele Länder haben ihn noch nicht genutzt. Dafür gibt es zwei Gründe.

Der eine ist die englische Sprache - viele Entwicklungsländer sprechen kein Englisch. Der zweite Grund ist die zunehmende Verbreitung von Telearbeit nach COVID. Ein Berater in Seattle, der Dienstleistungen in Chicago erbringt, kann in Bangalore sitzen.

Außerdem gibt es eine massive Verschiebung hin zu mehr Arbeitskräften in Schwellenländern. Viele Unternehmen errichten aus Gründen der Kosteneffizienz globale Kompetenzzentren, z.B. in Indien. Ein Berater, der frisch von der Business School kommt, kostet in den USA rund 250.000 Dollar, der gleiche Berater mit der gleichen Ausbildung in Indien nur 40.000 Dollar.

Der Schlüssel zum Erfolg Indiens im Dienstleistungssektor liegt jedoch im Humankapital. Die besten Absolventen der indischen Eliteuniversitäten tendieren dazu, anderswo weiter zu studieren. Um diese Absolventen zu halten, muss die Qualität der Ausbildung in Indien verbessert werden.

Das wird einige Zeit dauern, ist aber machbar. China zum Beispiel hat ein Hochschulsystem aufgebaut, das weltweit seinesgleichen sucht.

Der Schlüssel zu Indiens Erfolg im Dienstleistungssektor wird im Humankapital liegen.

In Indien schicken wir viele Studenten ins Ausland und holen einige von ihnen zurück, um mit ihrer Hilfe neue Universitäten zu gründen. Wir müssen nicht nur daran arbeiten, mehr dieser Studenten nach Indien zurückzuholen - wie es China gelungen ist -, sondern wir müssen auch die Qualität des Lehrpersonals in allen Einrichtungen verbessern, denn das Lehrpersonal ist eine der wichtigsten Ressourcen in der Hochschulbildung.

Insgesamt verlagert sich die Arbeitskräftearbitrage heute auf den Dienstleistungssektor, und ich denke, dass Indien seine Präsenz in diesem Sektor leicht ausbauen könnte.

Die Landwirtschaft ist nach wie vor ein wichtiger Arbeitgeber in Indien, und viele junge Menschen verlassen die Schule, um in der Landwirtschaft zu arbeiten. Ist das ein Hindernis für Indiens Wirtschaftswachstum?

Raghuram: Die Landwirtschaft ist kein Hindernis, aber die Menschen wollen den Sektor verlassen, weil er wenig produktiv und schlecht bezahlt ist - die Löhne in der Landwirtschaft sind in den letzten zehn Jahren um nicht mehr als ein Prozent gestiegen.

In "Breaking the Mold: Reimagining India's Economic Future" schreibe ich über einen kleinen Jungen, Mustafa, der auf einer Farm festsaß. Er hatte zu Hause keine Unterstützung, fiel in der sechsten Klasse durch und brach schließlich die Schule ab. So geht es vielen indischen Kindern.

Aber Mustafa wurde von seinem Lehrer zurück in die Klasse geholt, der ihm sagte: "Die Schule ist der einzige Ausweg".

Mustafa arbeitete hart und schloss die Schule als Klassenbester ab. Schließlich gründete er ein Unternehmen, das frischen Idli-Teig herstellt. Heute beschäftigt das Unternehmen 2.500 Mitarbeiter und vertreibt seine Produkte in städtischen Gebieten in ganz Indien.

Das ist eine beeindruckende Geschichte aus dem neuen Indien, die wir gerne wiederholen würden. Doch das Hindernis ist gute Bildung. Wie kann Indien qualitativ hochwertige Bildung in Massenproduktion herstellen?

Ein anderes Beispiel ist ein Unternehmer, der Orchids International Schools gegründet hat, eine Organisation, die innovative, qualitativ hochwertige Bildung in mehreren Städten in ganz Indien anbietet. Orchids setzt auf das so genannte Scripted Learning, bei dem jede Klasse und jede Unterrichtsstunde im Voraus geplant wird.

Bei dieser Methode braucht man keinen tollen Lehrer, sondern nur einen vernünftigen. Dank des Scripted Learning konnte Orchids von einer kleinen Privatschule auf 300.000 Schüler pro Jahr anwachsen.

Außerdem wollen arme Eltern ihre Kinder unbedingt aus der Landwirtschaft herausholen und sind bereit, das Schulgeld für Privatschulen zu bezahlen. Das garantiert, dass der Lehrer kommt, was ein Vorteil gegenüber den staatlich finanzierten Schulen ist.

Ein weiteres Problem ist, dass es in Indien viele Universitäten von schlechter Qualität gibt, die Bildung als Profit betrachten, aber nicht in bessere Lehrer oder Einrichtungen investiert haben. Diese Universitäten werden oft von Politikern gegründet.

Aber die Qualität verbessert sich, wenn auch langsam. Unsere Elite-Universitäten sind gut, aber nicht großartig. Am ehesten lässt sich das Indian Institute of Science mit der chinesischen Tsinghua-Universität vergleichen, die noch erheblich modernisiert werden muss, um eine ähnliche Qualität zu erreichen.

Der Wettbewerb im Dienstleistungssektor ist gering, aber viele Länder haben diesen Vorteil noch nicht genutzt.

Hat Indien starke demokratische Institutionen?

Raghuram: Indien wurde lange vor Großbritannien oder den USA eine Demokratie, aber zu einer Zeit, als das Land extrem arm war. Straßen, Flughäfen und Eisenbahnen konnten nicht gebaut werden, und manche haben behauptet, die Demokratie habe Indien zurückgehalten.

Aber heute ist die Demokratie eine der wachsenden Stärken Indiens. Sie hat zur Schaffung von Institutionen beigetragen, die die Fähigkeiten des indischen Volkes verbessert und ihm Raum für Kreativität und Innovation gegeben haben.

Eine Möglichkeit, wie Indien sein Wachstum im Dienstleistungssektor steigern kann, ist die Einführung eines strikten Datenschutzes. Da Dienstleistungen sehr datenintensiv sind, würde kein Land wollen, dass die Regierung eines anderen Landes Zugriff auf die Daten seiner Bürger hat.

Indien muss sich darauf konzentrieren, viele seiner demokratischen Institutionen unabhängiger zu machen, um in Bereichen wie dem Dienstleistungssektor expandieren zu können. Wenn Indien diese Schutz- und Kontrollmechanismen abschafft und seine Demokratie in Frage stellt, ist die wirtschaftliche Zukunft des Landes gefährdet.

Welchen Einfluss hat China auf Indien, wenn überhaupt?

Raghuram: Ich glaube, es gibt in Indien einen gewissen Neid auf China. Wir wollen da sein, wo China ist. Aber während uns ein starker Mann ins 20. Jahrhundert geführt hat, brauchen wir eine demokratischere Struktur, um ins 21. Jahrhundert zu gelangen. Die Vorstellung, dass ein starker Mann uns dahin führt, wo wir hin müssen, ist in vielerlei Hinsicht eine Fehleinschätzung der Geschichte.

China stellt für jedes Land eine große Herausforderung dar, insbesondere aber für ein bevölkerungsreiches Land wie Indien. Wie kann Indien sicherstellen, dass es seine Soft-Power-Dividende klug einsetzt?

Raghuram: Ich glaube, dass die Welt nach einer Alternative zu China sucht. Die Länder suchen nach neuen Märkten, die sie ohne Angst vor Konflikten erschließen können, und nach billigen Arbeitskräften. Indien erfüllt diese Bedingungen in vielerlei Hinsicht.

Manche fürchten Indiens Stärke. Wenn Indien sich in Richtung einer autoritären Struktur entwickelt, könnte es für andere Demokratien in der Welt weniger attraktiv werden.

Ich glaube, dass Indien eine starke Opposition braucht, um sicherzustellen, dass die Regierung an der Macht kontrolliert und ausbalanciert wird. Indien muss auch einige Entscheidungen überdenken, die der Zentralregierung enorme Macht verliehen haben. Ein Land wie Indien braucht viel mehr Dezentralisierung.

Auch wenn es eine Zeit des potenziellen Autoritarismus geben mag, hoffe ich, dass Indien in sich selbst die Fähigkeit findet, diesen Weg umzukehren. Und längerfristig hoffe ich, dass es ein Land wird, das zu seinen demokratischen Werten steht und dem die Demokratien der Welt vertrauen.

Können Sie die Art der Dezentralisierung näher erläutern, die Indien braucht, um erfolgreich zu sein?

Raghuram: Wenn man sich das chinesische Dezentralisierungsmodell ansieht, haben viele lokale Behörden die Regeln für lokale Unternehmen neu definiert - und manchmal sogar gebrochen. Diese Art von Wettbewerb zwischen lokalen Behörden ist als wettbewerbsorientierte Vetternwirtschaft bekannt. Wettbewerb hält Vetternwirtschaft in Schach.

Aber Vetternwirtschaft ist ein wirksames Mittel, um sich einen Weg durch das Dickicht der Regeln zu bahnen, die die Wirtschaft behindern. Wir hätten zwar lieber keine Vetternwirtschaft, aber auch lieber vernünftigere Vorschriften. Die Idee, dass lokale Behörden den Unternehmen helfen, ist etwas, von dem Indien lernen sollte, und es ist einer der Vorteile der Dezentralisierung.

Der andere Vorteil, den Indien in den wenigen dezentralisierten Bundesstaaten bereits erlebt, ist, dass die lokalen Behörden einen Anreiz haben, die Qualität des Gesundheits- und Bildungswesens zu verbessern, weil die Bürger sie zur Rechenschaft ziehen und protestieren können, wenn die Dinge nicht gut laufen. Und wenn die Kommunalpolitiker ihren Gemeinden einen guten Dienst erweisen, können sie leicht wiedergewählt und in neue Ämter berufen werden.

Indien ist zu vielem fähig, aber es muss erkennen, dass es noch viel zu tun gibt.

Ist Indien in der Lage, die notwendigen Veränderungen zu erkennen und umzusetzen, um seine wirtschaftlichen Ziele zu erreichen?

Raghuram: Ich denke, Indien muss sich vor übertriebener Selbstzufriedenheit und Gedanken wie "Indiens Zeit ist gekommen. Es hat alles getan, was es tun muss, und es hat die Regierungspartei, die es über die Ziellinie bringen wird.

Hier sehe ich einen Mangel an Visionen. Indien sollte nicht versuchen, das nächste China zu werden, denn China ist schon da und sitzt auf der Leiter. Das würde schnell ins Leere führen - und zu Desillusionierung.

Wenn Indien reich werden will, bevor es alt wird - und 2050 wird es alt sein -, dann hat es ein Zeitfenster von etwa 25 Jahren, in dem es schneller werden muss.

In Breaking the Mold diskutiere ich viele Beispiele, wie Indien seine wirtschaftlichen Ziele erreichen kann. Das bedeutet nicht, dass diese Beispiele die Norm darstellen. Sie sind Ausreißer und zeigen, was möglich ist.

Was Indien also tun muss, ist, die Ausreißer zur Norm zu machen. So gibt es in Indien Bundesstaaten, deren Gesundheitssysteme fast auf dem Niveau der Ersten Welt arbeiten. Es gibt aber auch Bundesstaaten, deren Gesundheitssysteme denen in Subsahara-Afrika entsprechen.

Indien muss sich um Aufträge bemühen und dafür sorgen, dass überall die besten Verfahren angewendet werden. Aber wie kann es das tun? Wie kann Indien sich aufrütteln und sagen: "Wir brauchen einen neuen Weg"? Das wird nicht geschehen, wenn Indien nicht erkennt, wohin es gehen muss und was es dafür braucht.

Breaking the Mold ist in gewisser Weise ein Weckruf. Indien ist zu vielem fähig, aber es muss erkennen, dass es noch viel zu tun gibt. Die größte Herausforderung für Indien in der Zukunft werden die Nationalisten sein, die sagen: "Wir sind angekommen, jetzt müssen wir nur noch die Belohnungen einstreichen".

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