Wird die globale Ordnungspolitik sich bewähren?
Titel der Publikation: | Wird die globale Ordnungspolitik sich bewähren? |
Veröffentlichung: | 05/2020 |
Autor: | Carl Manlan und Henri-Michel Yéré |
Auftraggeber: | Project Syndicate |
COVID-19 stellt die bisher größte Bedrohung für die während des 20. Jahrhunderts eingerichteten Systeme internationaler Integration dar. Wie bei der Spanischen Grippe von 1918 haben die Tödlichkeit und Ansteckungsfähigkeit des Coronavirus eine Rückkehr zu harten nationalen Grenzen und anderen Barrieren ausgelöst. Von Carl Manlan und Henri-Michel Yéré
28.05.2020 | 08:00 Uhr
Historisch waren die zu einer verstärkten Integration führenden Krisen militärischer Art; Grund dafür war die Erkenntnis, dass regionaler Austausch zu Frieden und Wohlstand beiträgt. Unter diesen Umständen haben die meisten Länder kein Interesse daran, mit ihren Nachbarn Krieg zu führen, weil das fast mit Sicherheit dem sozioökonomischen Wohl ihrer eigenen Bürger schaden würde.
Als das Nobelkomitee der Europäischen Union 2012 den Friedensnobelpreis verlieh, würdigte es diese dafür, dass sie „sechs Jahrzehnte lang zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beigetragen hat“. Während dieses Zeitraums hat das europäische Projekt den Frieden gesichert, indem es, angefangen mit der gemeinsamen Produktion von Kohle und Stahl, die wirtschaftliche Integration vorantrieb.
In ähnlicher Weise ging die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) aus der Asche einer bedeutenden Krise hervor: dem Biafra-Krieg (1967-1970). Die als Stellvertreter französischer Interessen in der Region handelnde Côte d’Ivoire hatte ein strategisches Interesse an einer Schwächung Nigerias; daher erkannte sie Biafras sezessionistischen Versuch, seine Unabhängigkeit zu erlangen, an. Diese Entscheidungen – und das darauf folgende Blutvergießen – drohten bleibende Narben zu hinterlassen. Doch in der ECOWAS fand Westafrika einen Mechanismus, um gemeinsame regionale Ziele voranzutreiben. Durch Zusammenführung frankophoner, anglophoner und lusophoner Länder durchbrach der Block die „Berliner Mauer“ 1885 geschaffener kolonialer Grenzen. Bis heute gilt die ECOWAS weithin als eine der erfolgreichsten subregionalen Organisationen Afrikas.
Doch stellen Ausbrüche ansteckender Krankheiten trotz aller Erfolge dieser Institutionen eine besondere Herausforderung dar. Bei der westafrikanischen Ebola-Epidemie von 2014 bedurfte eines einer Koalition aus 50 Ländern, um den Ausbruch einzudämmen und die Krise beizulegen. Geschickte Diplomatie erleichterte die Bündelung der benötigten Finanz-, Gesundheits- und Logistikressourcen, um Ebola in Guinea, Liberia und Sierra Leone zurückzuschlagen. Mindestens 11.315 Menschen kamen ums Leben, doch die übrige Welt entging einer tödlichen Pandemie.
Bei COVID-19 hatten wir weniger Glück. Die Pandemie ist dabei, im raschen Tempo Ordnungsstrukturen zunichte zu machen, Geschäftsmodelle zu destabilisieren und die Bühne für eine globale Schuldenkrise zu bereiten. Wie Pandemien stellen auch globale Finanzkrisen eine ernste Bedrohung für die Integration dar. Als das Nobelkomitee der EU 2012 den Preis zusprach, schüttelten in Griechenland zweifellos viele Menschen ob dieser Entscheidung den Kopf, weil sie ihren eigenen „Krieg“ innerhalb der EU führten.
Die Eurokrise zeigte die Grenzen wirtschaftlicher Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten auf. Im Namen der Eindämmung der finanziellen Ansteckung hatte der Arzt (die Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds) statt eines Schuldenerlasses für Griechenland ein robustes Sparprogramm verschrieben. Die Krise zeigte, dass die politischen Zwänge eines Integrationsmechanismus letztlich die politische Ökonomie widerspiegeln, auf der dieser fußt.
Insbesondere nach der Einführung des Euro sollte das europäische Projekt eine den gesamten Kontinent umspannende gemeinsame Währung umfassen. Die symbolische Bedeutung der Einführung des Euro im Jahr 1999 wird deutlich, wenn man sich an eine frühere Phase der europäischen Einigung erinnert, als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (der Vorläufer der EU) 1981 Griechenland und dann 1986 Spanien und Portugal aufnahm. Damals gehörten diese drei Länder zu den „rückständigsten“ Volkswirtschaften und jüngsten Demokratien Europas. Doch wurde weithin anerkannt, dass Frieden und gemeinsamem Wohlstand besser gedient wäre, wenn man diese Länder mit aufnähme.
Nun freilich, da wir uns in der Mitte einer Pandemie befinden, wird eine Rückkehr zur Sparpolitik unweigerlich die Grenzen jedes um die Währungsstabilität strukturierten Integrationsmechanismus aufdecken. COVID-19 hat die Debatte über Schulden und Sparpolitik wieder klar auf die politische Tagesordnung gesetzt. Schulden sind ein Instrument gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels, das erforderlich ist, um anderweitig unmögliche Investitionen zu tätigen. Die Zinssätze dienen dabei als Messgröße der Risikowahrnehmung: der Erwartung, dass die Wirtschaftsaktivität eine pünktliche Rückzahlung der vorgesehenen Tilgungszahlungen zulassen wird.
Doch nun, da die Wirtschaftsaktivität zum Stillstand gekommen ist, gilt es, diese Arrangements zu überprüfen. Im Falle Afrikas belief sich das jährliche BIP-Wachstum vor dem plötzlichen Stopp auf durchschnittlich rund 4%, während sich die Ausgabe neuer Staatsanleihen auf lediglich 1% vom jährlichen BIP belief. Insofern kann die internationale Reaktion nicht bloß auf Schuldenerleichterungen beschränkt sein. Das wahre Problem sind die Zinssätze. Die afrikanischen Staaten zahlen auf zehnjährige Staatsanleihen 5-16% Zinsen, während die Regierungen der hochentwickelten Volkswirtschaften Null- oder Negativzinsen zahlen. Wenn globale Solidarität überhaupt eine Bedeutung hat, muss etwas in Bezug auf dieses Ungleichgewicht getan werden.
Der Ebola-Ausbruch von 2014-16 hat die Wirksamkeit globaler ordnungspolitischer Mechanismen durch Bündelung wissenschaftlicher Fachkenntnisse, unverzichtbarer Ressourcen und gesundheitlicher Fachkräfte an den Frontlinien der Krise unter Beweis gestellt. Damals entfielen auf Guinea, Liberia und Sierra Leone bloße 0,68% vom afrikanischen BIP. Wie seltsam also, dass die Welt in einer Zeit, in der das globale BIP – das sich im vergangenen Jahr auf 88,1 Billionen Dollar belief – auf dem Spiel steht, in den Nationalismus zurückverfällt.
Die Griechenlandkrise war ein Vorläufer einer Schuldendebatte, die gerade erst angefangen hat – genau wie Ebola eine frühe Warnung vor einer drohenden Pandemie darstellte. Indem es die beiden Probleme vereint, stellt COVID-19 die bestehenden Mechanismen der politischen und wirtschaftlichen Integration wie nie zu vor auf die Probe. Nationale Grenzen zu stärken wird nicht helfen: Die Pandemie und die drohende Schuldenkrise sind beide nahezu universelle, globalisierungsbedingte Phänomene.
Der unmittelbare Gesundheitsnotstand stellt eine historische Gelegenheit für die globalen ordnungspolitischen Mechanismen dar, ihre Wirksamkeit unter Beweis zu stellen und das öffentliche Vertrauen wiederherzustellen. Wir müssen über die engen ideologischen Schranken hinausblicken, die die politischen Debatten der Zeit nach 2008 bestimmt haben. Die COVID-19-Krise verlangt, dass wir grundlegende Annahmen überdenken, beginnen, unsere bestehenden Institutionen entsprechend zu stärken, und uns auf die nächste Krise vorbereiten.
Die Autoren
Carl Manlan war ein New Voices Fellow des Jahres 2016 des Aspen Institute und ist Chief Operating Officer der Ecobank Foundation.
Henri-Michel Yéré ist ein an der Universität Basel (Schweiz) tätiger Historiker.
Copyright: Project Syndicate