Wie die Grafik belegt, sind sowohl die US-amerikanische als auch die
britische Lohninflation in einem zunehmend angespannten Arbeitsmarkt in
die Höhe geschossen – ein altes Rezept aus dem Lehrbuch, nach dem es zu
weiteren Preisanstiegen kommen wird. Man muss jedoch hinter die Kulissen
blicken, um die wahre Geschichte abzubilden. In meiner Vorstellung
heißt sie „Goldlöckchen und der Bär“.
Quelle: Bloomberg
Goldlöckchen – USA
Die US-Wirtschaft erfreut sich weiterhin an einem
Goldlöckchen-Szenario, in dem die Wirtschaft weder zu überhitzt ist, um
einen starken Zinserhöhungszyklus zu erzwingen, noch zu abgekühlt, um
die Unternehmensgewinne zu bremsen. Dieses Umfeld ermöglicht den
Unternehmen eine Kreditaufnahme zu relativ niedrigen Zinsen, was ihnen
dabei hilft, Ausfälle zu vermeiden. Gleichzeitig verlieren die
Verbraucher nicht zu viel Kaufkraft aufgrund der Inflation. Das ist das
Traumszenario für viele riskante Vermögenswerte, z. B. für
Hochzinsanleihen, und hat den US-Aktienmarkt von einem Rekordhoch zum
nächsten gejagt. Glückliche Tage.
Dieser wirtschaftliche Idealzustand könnte jedoch durch die aktuellen
Handelskonflikte entgleisen, die sich durchaus noch verschlimmern
könnten, bevor sich die Lage wieder entspannt. Auch wenn einige
Marktbeobachter prognostizieren, dass der Handelskrieg zu einer
Abkühlung und somit zu einer niedrigeren Inflation führen könnte, teile
ich diese Meinung aus folgenden Gründen nicht:
- Importe werden teurer: Die Zölle könnten die Preise von
chinesischen Importwaren automatisch erhöhen, da die chinesischen
Hersteller die Kosten an die US-Verbraucher weitergeben, was zu höheren
Preisen führt.
- Substitutionskosten: Wenn die US-Verbraucher die höheren
Preise nicht aufnehmen können oder wollen, wäre ein automatisches
Umschwenken auf in den USA hergestellte Ersatzprodukte möglicherweise
einfacher gesagt als getan: Der Bau von Fabriken zur Steigerung der
inländischen Produktionsmenge könnte sich im aktuellen Umfeld mit
steigenden Zinsen als problematisch erweisen – und auch als schwierig,
da die Arbeitsmarktlage in den USA bereits sehr angespannt ist. Der
Versuch, bei einer Arbeitslosenquote von unter 4% weitere Arbeitskräfte
einzustellen, könnte die Löhne unter Druck setzen, was die Inflation
eher steigen als fallen ließe.
Deshalb gehe ich davon aus, dass die Fed die Zinsen weiter wie
geplant anheben wird – trotz der jüngsten gemäßigten Ansprache von
Notenbankchef Jerome Powell in Jackson Hole im August.
Der Bär – Großbritannien
In Großbritannien ist das
Bild etwas getrübter, obwohl die Lohninflation im Juli positiv
überraschte: Sie erreichte ein annualisiertes Wachstum von 2,9%, was dem
Anstieg im März entsprach. Damit liegt sie auf dem höchsten Stand seit
drei Jahren. Wie die Grafik illustriert, wird der Optimismus in Bezug
auf die Inflation in Großbritannien in der marktimplizierten künftigen
Inflationsrate, die durch die Breakeven-Rate ausgedrückt wird, nicht
reflektiert.
Quelle: Bloomberg
Lassen Sie uns hinter die Kulissen schauen, um zu verstehen, warum das so ist:
- Wahre Treiber: Die Bank of England (BOE) lag mit ihrer
Prognose ausnahmsweise richtig: Der Brexit wird höhere Löhne zur Folge
haben, da weniger ausländische Arbeitskräfte nach Großbritannien gelockt
werden. Bei nachlassendem Wettbewerb könnten die Löhne weiter steigen.
Dieser Inflationsschub wäre jedoch möglicherweise nicht nachhaltig, da
er nicht durch eine starke Wirtschaftsleistung hervorgerufen wird,
sondern durch eine Angebots- und Nachfragedynamik.
- Im Eifer des Gefechts: Die allgemeinen Verbraucherpreise
lagen im August mit einem Anstieg von annualisierten 2,7% über den
Erwartungen. Sie wurden großenteils durch die Preise für Kleidung,
Transport und sogar Theater vorangetrieben. Dies geschah in einem der
heißesten Monate seit Beginn der Aufzeichnungen und warf die Frage auf,
ob dieser Anstieg nachhaltig ist oder nicht.
- Immobilieneffekt: Die Briten nutzen das Niedrigzinsumfeld zum
Immobilienkauf, doch das könnte sich bald ändern, wenn die Zinsen
weiter steigen. Da die Hälfte der Immobilienkäufer einen Vertrag mit
variablen Zinsen hat, könnten auch nur zwei Zinsanhebungen die
monatlichen Zahlungen deutlich erhöhen, was einen konjunkturellen
Rückgang zur Folge hätte und die Inflation eindämmen würde. Ich
habe bereits letztes Jahr davor gewarnt, dass schlecht getimte
Zinserhöhungen „viel zu kurzfristig und prozyklisch“ sein könnten und
das Wachstum und die Inflation dämpfen könnten. Leider hatte ich recht:
Nachdem die BOE im November die Zinsen erhöht hatte, verlangsamte sich
das annualisierte Wachstum in Großbritannien im ersten Quartal dieses
Jahres auf 1,2%, das niedrigste Tempo seit 2012.
- Arbeitslosigkeit – ist sie wirklich so niedrig? Obwohl die
Arbeitslosenquote auf ihrem niedrigsten Stand seit 1975 liegt, könnte
diese Zahl die Tatsache verschleiern, dass viele Briten gerne mehr
arbeiten würden, sie es aber nicht tun, weil sie es nicht können. Der
Autohersteller Jaguar Land Rover hat für seine Mitarbeiter bis
Weihnachten beispielsweise eine Drei-Tage-Woche eingeführt.
Medienberichten zufolge könnte Großbritannien bis 2020 nicht weniger als
eine Million Leiharbeiter haben – kaum eine Position für
Gehaltsforderungen.
- Währungseffekt: Die Brexit-Unsicherheit hat das Pfund
Sterling dieses Jahr weiter belastet. Seit 1. Januar ist es gegenüber
dem US-Dollar 2,6% im Rückstand. Das erhöht die Preise für in US-Dollar
denominierte Importwaren und wirft erneut Fragen über die Nachhaltigkeit
des Inflationsanstiegs auf, da die Teuerung nachlassen könnte, sobald
der Basiseffekt verschwindet.
All dies führt mich zu dem Gedanken, dass trotz der jüngsten
Preisanstiege die Inflation zum Jahresende am unteren Ende von 2% liegen
könnte – ein Niveau, das den wahren – und mäßigeren – wirtschaftlichen
Herzschlag Großbritanniens besser reflektiert. Was könnte meine Ansicht
potenziell in Frage stellen? Der Brexit natürlich, dessen
Inflationsergebnisse so binär erscheinen wie die Meinungen, die das
Thema aufwirft. Ich stelle mir zwei Szenarien vor:
- Keine Inflation bitte, wir sind britisch: Ein Kompromiss in
letzter Minute zwischen Großbritannien und der EU könnte den Wechselkurs
von aktuell 1,31 auf 1,40 USD pro Pfund festigen. Das würde den Anstieg
der Importpreise zügeln und Lohnforderungen aufgrund der stärkeren
Integration mit der EU eindämmen.
- Kaltes Großbritannien: Ein harter Austritt ohne Vertrag
könnte den Wechselkurs auf 1,20 USD pro Pfund drücken, einen so tiefen
Stand wie im Januar 2017, als Premierministerin Theresa May verkündete,
dass ein Brexit ohne Vertrag eine Möglichkeit wäre. Das würde einen
Inflationsanstieg und Lohnforderungen hervorrufen.
Quelle: Bloomberg
Welches dieser Ergebnisse wahrscheinlicher ist, hängt davon ab, wie wir
den Brexit betrachten. Doch die einzige Sache, die – was die Inflation
betrifft – sicher scheint, ist, dass während in den USA die Teuerung
durch Wirtschaftswachstum hervorgerufen wird, sie in Großbritannien
hauptsächlich vom Ergebnis des Brexit abhängt – in welchem Falle sie
durchaus als Bär enden könnte. Ich hoffe, dass ich erneut falsch liege.
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