Viktor Nossek, Director of Research beim ETF-Anbieter WisdomTree Europe, spricht mit FundResearch über die Folgen eines Brexits, die Kritik aus Deutschland am Kurs der EZB und über gute Nachrichten aus Europa.
31.05.2016 | 08:35 Uhr
FundResearch: Das Projekt Europa ist trotz vieler offener Fragen in den Hintergrund geraten. Wie schätzen Sie die Lage aktuell ein?
Viktor Nossek: Aus wirtschaftlicher Sicht gibt es gute Nachrichten. Europa steht am Anfang einer strukturellen Erholungsphase. Der Grund: Die Binnennachfrage zieht an. Das heißt, dass Staaten und Haushalte mehr konsumieren. Damit leisten sie einen positiven Beitrag zum Bruttosozialprodukt. Gleichzeitig sinken die Lohnstückkosten beispielsweise in Italien und Frankreich relativ zu Deutschland. Die beiden Länder sind bisher noch nicht als Wachstumstreiber bekannt, aber ihre Arbeitsmärkte werden immer konkurrenzfähiger. Positiv ist auch die Tatsache, dass Kredite für kleine und mittlere Unternehmen günstiger werden - nicht nur in Griechenland und Spanien, sondern auch in Italien und Frankreich. Dieser Trend hat erst in den letzten anderthalb Jahren zu einer spürbaren Entlastung für diese Unternehmen geführt. Gleichzeitig konnte damit der Arbeitsmarkt beginnen sich zu erholen.
FundResearch: Wie nachhaltig ist dieses Wachstum?
Nossek: Wir erwarten in Europa - bedingt durch die Binnennachfrage – ein nachhaltiges, das heißt ein strukturelles, Wachstum. Die Wirtschaft wird zudem weiter durch Exporte gestützt, die sich zwar abschwächen, aber nicht einbrechen.
FundResearch: Vor allem in Deutschland wird die EZB immer wieder heftig für ihre Maßnahmen kritisiert. Anscheinend scheint Draghis Plan aber aufzugehen?
Nossek: Die Geldpolitik der EZB hat in der Tat funktioniert. Sie hat es geschafft, die langfristigen Zinsen zu senken. Eine hohe Inflation hilft Staaten in der Regel dabei ihren Schuldenberg abzubauen. In Europa war und ist die Inflation aber niedrig. Trotzdem hat die EZB dafür gesorgt, dass die langfristigen Zinsen gefallen sind. Das neue Programm zielt nun noch genauer auf die Privatwirtschaft. Mit TLTRO vergibt die EZB zinslose Kredite an Banken. Banken werden zusätzlich dazu sogar dafür belohnt, wenn sie sich noch mehr Geld bei der EZB besorgen. Damit schafft die EZB einen enormen Anreiz für Banken ihr Kreditangebot zu erweitern. Das wiederum kommt der Privatwirtschaft zu Gute. Der Arbeitsmarkt erholt sich, Löhne und Gehälter steigen, sobald Fachkräfte knapper werden und das sorgt letztendlich für eine nachhaltige Inflationsrate.
FundResearch: Bisher waren Banken eher zurückhaltend, wieso vergeben sie gerade jetzt mehr Kredite?
Nossek: Die Situation ist eine andere als noch beim ersten TLTRO-Programm 2014. Damals stand der Stresstest der EZB vor der Tür. Folglich gab es für Banken keinen Anreiz die billigen Kredite der EZB zu nutzen. Heute können Banken jedoch ihre Bilanz mit TLTRO-Krediten aufblasen. Dieses Angebot nehmen sie nun auch an. Die daraus entstehenden Profite sollten Investoren zudem dazu veranlassen, sich an den zu erwartenden Neuemissionen von Bankaktien, die zur Verstärkung der Kernkapitalquoten notwendig sind, zu beteiligen. Die Geldpolitik der EZB wird also auch daher erfolgreich sein, weil sie sehr genau zielt.
FundResearch: Bisher kämpft die EZB aber vergeblich gegen die niedrige Inflation…
Nossek: Inflationsraten hängen immer auch mit dem Bevölkerungswachstum zusammen. In Europa, aber auch in anderen Industriestaaten, geht das Bevölkerungswachstum zurück. Ob ein Inflationsziel von zwei Prozent noch angemessen ist, ist die Frage. Gleichzeitig ist eine niedrige Inflation nicht per se schlecht, siehe die USA. Trotz niedriger Inflation wächst dort die Wirtschaft. Solange kein Deflationsrisiko besteht oder eingepreist wird, sehe ich keine Gefahr.
FundResearch: Die Zinsen bleiben weiterhin niedrig. Zudem hat das Jahr 2016 sehr volatil begonnen, wie sollten sich Anleger positionieren?
Nossek: Die Korrekturen, die wir beobachten konnten, hatten vor allem mit schwachen Wirtschaftsdaten aus China und mit starken Kursschwankungen am Rohstoffmarkt zu tun, und weniger mit der Wirtschaftslage in den USA oder in Europa. Wir bevorzugen weiterhin europäische Small-Cap-Aktien: Damit können Anleger von kleinen Unternehmen, die innerhalb der EU exportieren, profitieren. Auch Yield- und Dividendenstrategien sind aktuell vor dem Hintergrund niedriger Zinsen attraktiv.
FundResearch: Welche Risiken warten auf Anleger in diesem Jahr?
Nossek: Das Thema Brexit ist sicherlich ein Thema, welches den Markt kurzfristig runterbringen könnte. Bereits im letzten Jahr haben wir ein solches Szenario kurz vor dem griechischen Votum erlebt: In der Spitze verloren Aktienmärkte rund acht Prozent1. Anschließend haben sich die Kurse erholt. Bis zum 23. Juni rechnen wir daher mit sinkenden Aktienkursen, da Anleger sehr vorsichtig agieren. Hedging spielt eine große Rolle. Aber auch Cash und deutsche Staatsanleihen werden stärker nachgefragt werden. Die Korrekturen, die wir im letzten Jahr gesehen haben, könnten sich also wiederholen. Auch wenn die Gefahr einen Brexits besteht und Länder wie Polen, die Niederlande oder Spanien nachziehen könnten, glaube ich jedoch, dass das Projekt Europa überleben wird. Wenn auch mit neuen Regeln und Kompromissen.
FundResearch: Sie sitzen in London: Wie ist die Stimmung dort?
Nossek: Das Sentiment ist sehr schwer vorherzusagen. Umfrageergebnissen bieten da auch keinen echten Mehrwert. Die Ergebnisse der vergangenen Wahlen haben Meinungsinstitute jedenfalls nicht korrekt prognostiziert. Ich glaube jedoch, dass die Briten das Risiko der Unsicherheit nicht eingehen werden. Welche Folgen der Brexit hätte, ist schwer abzuschätzen. Sicher wäre damit nur die Unsicherheit. Seit 2012 sind in England mehr als 1,5 Millionen neuer Arbeitsplätze geschaffen worden und seit anderthalb Jahren steigen auch die Reallöhne in der britischen Privatwirtschaft wieder. Diese Entwicklung wird man nicht gefährden wollen.
FundResearch: Können sich Anleger vor einem Brexit schützen?
Nossek: Bis zum Stichtag sollten sie gehedged bleiben. Vor allem an den Währungsmärkten könnte es zu starken Kursbewegungen kommen. Englische Aktien dagegen träfe ein möglicher Austritt weniger, als man vielleicht erwarten würde. Large Caps sind in England oftmals große Exporteure, die von einem schwachen Pfund profitieren. Englische Staatsanleihen dagegen werden Kursverluste verkraften müssen. Wer Staatsanleihen kauft, glaubt an eine stabile Währung. Währungs- und Anleihenmärkte sind daher stark miteinander verknüpft. Nichtsdestotrotz: Mit oder ohne Großbritannien, die Binnennachfrage in Europa wird weiter anziehen.
FundResearch: WisdomTree ist Vorreiter in Sachen ETFs. Welche Produkte stehen in der Pipeline?
Nossek: In England haben wir grade ein Broad–Enhanced-Commodities-Produkt lanciert: eine breite Rohstoff-Strategie auf die Sektoren Metalle, Energie, Edelmetalle, und Landwirtschaft. Das Schöne an diesem ETF: Die Kombination der verschiedenen Rohstoff-Sektoren sorgt für eine niedrige Volatilität. Einzelne Rohstoffe schwanken ja in der Regel stark. Da Rohstoffe aber nicht oder nur wenig miteinander korreliert sind, kann eine gute Mischung die Volatilität begrenzen. Der Fonds nutzt das Thema Diversifizierung also voll aus und setzt auf einen Enhanced-Roll. Rohstoffe werden über Futures gehandelt – außer man lagert den Rohstoff selbst irgendwo. Dadurch können erhebliche Verluste entstehen, wenn man beispielsweise den Rohstoff zu niedrigeren Preisen verkaufen muss, als man ihn gekauft hat. Ein optimierter Roll minimiert dieses Risiko.
1 acht Prozent Kursverlust zwischen dem 22. Mai und dem 7. Juli 2015
(TL)
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